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56 schung vor Augen: Dieses liegt in der Untersuchung und Analyse eben jener Ein-
flüsse, Muster, Strukturen – allgemein formuliert also jener kulturellen Vorlagen
–, die die Erinnerung und das Erzählen formen bzw. prägen. Wo ein konkretes
historisches Ereignis nicht zuverlässig erinnert werden kann, da taucht die Frage
auf, in welcher Form die Erinnerung abweicht und welchen Strukturen die Erzäh-
lung folgt. Es sei an dieser Stelle nochmals an das Zitat Albrecht Lehmanns erin-
nert, der hierin die Aufgabe der Erzählforschung als Bewusstseinsanalyse versteht:
„Die Praxis der Erzählforschung als Bewußtseinsanalyse besteht darin, die Regeln
und Gattungen des Erzählens im Alltag zu entdecken, sie genau zu beschreiben,
in ihrem Kontext zu analysieren, ihnen einen Namen zu geben und sie in ihrer
funktionalen Bedeutung für den Einzelnen und die Kultur der Gruppe zu analy-
sieren.“14 Im nachfolgenden Kapitel soll versucht werden, zumindest einige Ant-
worten auf diese Fragen am Beispiel der Erinnerungserzählungen Montafoner
ZeitzeugInnen zu geben.
Auch auf die Vielfalt an möglichen Einflüssen auf lebensgeschichtliche Erzäh-
lungen wurde bereits ausführlich eingegangen. Für diese Arbeit wurden sie unter
dem Titel „Erinnerungspraxis und Erzähltradition“ zusammengefasst, eine nähere
Definition dieser beiden Begriffe ist an dieser Stelle sicherlich angebracht und soll
einhergehen mit der Darstellung der Herangehensweise bei der Analyse und ihrer
Zielsetzung.
Der Begriff der Erinnerungspraxis soll betonen, dass in der Analyse ergeb-
nisorientiert vorgegangen wird, das heißt orientiert an der Manifestation der
Erinnerungen in Form der Interviewtranskriptionen. Auf den komplexen Erin-
nerungsprozess soll und kann nicht mehr eingegangen werden, auch weil sich
dieser aufgrund der Momentaufnahme, die ein Interview ja darstellt, der Betrach-
tung entzieht. Die Frage nach der Praxis des Erinnerns widmet sich dem sichtba-
ren Bereich, nämlich den Aspekten was und wie erinnert wird. Der unsichtbare
Bereich des Warum soll in dieser Arbeit ausgeklammert bleiben. Der kulturelle
Aspekt des Erinnerns kann hier ausschließlich über Vergleiche erarbeitet werden.
Bezugnehmend auf Lehmanns „Erinnerungsgemeinschaften“ und angelehnt an
Halbwachs’ „kollektives Gedächtnis“ wird untersucht, wo es in den Erinnerun-
gen der Befragten Parallelen in Bezug auf die Darstellung der Ereignisse einerseits
sowie Parallelen in der Aneinanderreihung der Ereignisse andererseits gibt. Halb-
wachs stellt dieses kulturell geprägte Erinnern folgendermaßen dar: „Meistens
erinnere ich mich, weil die anderen mich dazu antreiben, weil ihr Gedächtnis dem
meinen zu Hilfe kommt, weil meines sich auf ihres stützt. […] die Gruppen, denen
ich angehöre, bieten mir in jedem Augenblick die Mittel, sie [meine Erinnerungen,
Anm.] zu rekonstruieren, unter der Bedingung, daß ich mich ihnen zuwende und
daß ich zumindest zeitweise ihre Denkart annehme.“15 Mit Hilfe des Begriffes der
Erinnerungspraxis wird die Frage nach einem sozialen Gedächtnis gestellt, das alle
14 Lehmann: Bewußtseinsanalyse. S. 246.
15 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. S. 20f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439