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Gesellschaften gegenüber der eigenen Geschichte ausbilden und das in einer mehr
oder weniger rigiden Weise regelt, was zu erinnern und was zu vergessen ist.16
An diesem Punkt überschneiden sich Erinnerung und Erzählung klarerweise,
denn der Forscherin erschließt sich im Falle einer Erzählverweigerung der
Gewährsperson, etwa durch ein Aussteigen aus der Geschichte in der Interview-
situation, wie etwa Schröder es beschreibt,17 auch die Erinnerungspraxis nicht
mehr. Die Erinnerung im lebensgeschichtlichen Interview ist nur über die Erzäh-
lung zugänglich und so eng mit ihr verknüpft, dass zwischen diesen Bereichen in
der Analyse selbst wohl nicht unterschieden werden kann: Zwar meint der Begriff
der Erinnerungspraxis die inhaltliche Ebene der Erinnerungserzählung, während
der Begriff der Erzähltradition eher den formalen Bereich fokussiert. In der Aus-
wertung und Analyse der vorliegenden 67 Interviews halte ich es allerdings mit
dem Literaturwissenschaftler Stanzel, der postulierte: „Das Erinnern selbst ist
bereits ein Vorgang des Erzählens, durch den das Erzählte ästhetisch gestaltet wird,
vor allem durch die Auswahl und Strukturierung des Erinnerten.“18 Die Auswahl
der Themenbereiche entlang der Lebensgeschichte sowie die Strukturierung dieser
Erinnerungen sind Inhalt der nachfolgenden Analyse.
In diesem Sinn ist das „und“ zwischen Erinnerungspraxis und Erzähltradition in der
wissenschaftlichen Bearbeitung nicht auflösbar. Der Titel soll die Verbindung der
beiden Prozesse andeuten, die praktische Herangehensweise an das Datenmaterial
orientiert sich allerdings an einer Vielzahl von Strukturen und Mustern, auf die im
ersten Teil der Arbeit bereits näher eingegangen wurde, und die hier zum Über-
blick nochmals angeführt werden sollen. Im Rahmen der ersten Forschungsfrage
„Welche Ereignisse und Prozesse des 20. Jahrhunderts werden im Rahmen lebensge-
schichtlicher Erzählungen erinnert?“ kommen insbesondere die Fragen nach den
„reminiscence bumps“ und der „reportability“ zum Tragen. Die „Erinnerungshü-
gel“ der Montafoner ZeitzeugInnen werden ebenso unter die Lupe genommen wie
die Verdichtungen in den Erinnerungserzählungen, die darauf hinweisen, was als
erzählenswert erachtet wird. Hier konzentriert sich die Analyse vordergründig auf
die Inhalte der Erzählungen und eventuell feststellbare kulturelle Traditionen, da
der interaktive Bereich sowie die Persönlichkeit der Erzählenden im Rahmen der
Erhebungen nicht ausreichend dokumentiert wurden.
Im Rahmen der zweiten Forschungsfrage „Welche Erzählstrukturen und Muster
kehren in den lebensgeschichtlichen Erzählungen wieder? Wie werden die Geschichte
des Tales und die eigene Lebensgeschichte verquickt?“ wird insbesondere auf Leh-
manns Konzept der Erzählstrukturen und Leitlinien Bezug genommen. Von den
Befragten vorgenommene thematische Schwerpunktsetzungen und Wiederholun-
gen in den Interviews stehen ebenso im Fokus wie der Aufbau in sich geschlossener
16 Ziegler, Meinrad und Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern
und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993. S. 25.
17 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 70f.
18 Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. Göttingen 1985 S. 275f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439