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66 1954 erwähnen, wüsste sie nicht, dass Stunden später eine große Lawine ins Sied-
lungsgebiet abging, bei der 35 Personen verschüttet wurden und teils nicht mehr
lebendig geborgen werden konnten.34
In KLs Einleitung werden viele Aspekte angesprochen, auf die in der Folge noch
im Detail eingegangen wird. An dieser Stelle sollen daher die Funktionen lebens-
geschichtlicher Erzählungen unter die Lupe genommen werden, wie sie sich am
obigen Beispiel darstellen. Gabriele Michel unterscheidet drei Funktionen, die
Erzählungen erfüllen können. Bei sprecher-orientierten Funktionen stehen die
psychische und kommunikative Entlastung sowie die Selbstdarstellung im Vorder-
grund, die hörer-orientierten Funktionen umfassen Belustigung oder Unterhal-
tung und Information, die kontext-orientierten Funktionen schließlich zielen auf
Belege oder Erklärungen ab.35 Warum nun wählte KL schon in der Vorbereitung
auf das Interview gerade diese Themenbereiche aus, die sie in chronologischer Rei-
henfolge als ihr Leben präsentieren wollte?
In Hinblick auf die Tatsache, dass KL das Konzept für diese Erzählung bereits
vor dem Interview verfasste, spielt die hörer-orientierte Funktion hier eine unter-
geordnete Rolle – abgesehen vom omnipräsenten Aspekt der Überlegungen: Was
will denn der Interviewer von mir hören? Warum wendet er sich gerade an mich?
Diese beiden Fragen, die die Erwartungshaltung beider am Interview beteiligten
Personen charakterisieren, treffen allerdings auf alle anderen spontanen Erzählun-
gen gleichermaßen zu.
Im Kern erfüllt KLs Erzählung vor allem kontext-orientierte und spreche-
rin-orientierte Funktionen. Einerseits möchte die Erzählerin aus ihrem aktuellen
Kontext heraus darüber informieren, was ihr heute im öffentlichen, gesellschaftli-
chen Bereich als vergessen oder unvorstellbar erscheint. Sie berichtet von Details,
die sie heute als anders empfindet, und möchte das Leben, wie es „früher“ war,
erklären. Dazu wählt sie Beschreibungen der ehemals harten Winter aus, während
derer man heiße Steine mit ins Bett nahm, um sich zu wärmen. Sie beschreibt die
Arbeit des Heuens auf steilen Hängen oder zählt die einfache Kost aus den immer
gleichen Zutaten auf. Dass man auf der Alpe „Gmewärch“ zu leisten hatte, zählt
ebenso zum Bild vom historischen Leben im Montafon wie das Ins-Tal-Tragen der
Sauren Käse von der Alpe im Rucksack.
Andererseits erlaubt die Erzählerin auch Einblicke, quasi in sprecherin-orien-
tierter Funktion, in ihre persönlichen Beweggründe des Erzählens. Die Beschrei-
bung wichtiger oder dramatischer Einschnitte in ihr Leben hat tendenziell die
Funktion der (psychischen oder kommunikativen) Entlastung, dazu zählen sicher-
lich die Erinnerungen an den Krieg, zu dem die jungen Männer im Dorf plötzlich
eingezogen wurden, und um die man trauerte, ohne sie begraben zu können. Aber
auch Erzählungen vom ersten Gehalt und den Dingen, die sie sich davon kaufte,
sowie natürlich die Heirat und die Geburt des ersten Kindes sind hier einzuordnen.
34 Nesensohn-Vallaster, Helga: Der Lawinenwinter 1954. (= Montafoner Schriftenreihe 11) Schruns
2004. S. 60.
35 Michel: Biographisches Erzählen. S. 13.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439