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68 Leitlinien mit dem Fokus auf das Arbeitsleben sind bei Männern auffallend deut-
licher ausgeprägt als bei Frauen. Der nachfolgende Ausschnitt aus der Erzählung
des 1935 geborenen YZ verdeutlicht das System der Aufzählung von Arbeitsstellen
und Arbeitserfahrungen, wobei die Aufzählung im Interview weit über diese aus-
gewählte Passage hinausging:
YZ: Dann hab ich die Hotelfachschule in Hofgastein gemacht und bin dann
in den Empfang übergewechselt. Ich war dann ein Jahr in Paris, im Hotel
„Scribbe“ als Stagière Receptionaire. Also als Volontär sozusagen. Da hat es
übrigens auch sehr viel jüdisches Publikum gegeben in dem Hotel „Scribbe“,
ein vier Sterne Hotel. Und sehr viel Businesspeople. Und dann war ich u.a.
im Hotel „Panhans“, ja und in Badgastein im Hotel „Elisabethpark“. Da war
ich auch im Empfang. Und am Arlberg im damaligen Hotel „Bellevue“, jetzt
heißt das anders. In St. Christoph, gegenüber vom Hospizhotel auf der ande-
ren Seite. […]
Bei dieser Darstellung wird das Prinzip der Leitlinie besonders deutlich. Weite Teile
von YZs Erzählung werden strukturiert von der Abfolge der Arbeitsplätze, die die
Erzählungen über dort gemachte Bekanntschaften (zumeist mit Prominenten) und
anderen Erlebnissen in den Hotels einleiten. YZ erscheinen diese Erfahrungen, die
er im Laufe der Jahrzehnte machte, wohl einerseits als sein Leben strukturierend,
andererseits aber auch als Unterschied zu anderen Biografien. Nach dem Prinzip
„Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann“38 wählt YZ das als erzählenswert
aus, was besonders spezifisch für sein Leben und daher interessant scheint.
Einer anderen Erscheinungsform der Arbeits-Leitlinie liegt ein monumentales
Arbeitsethos zugrunde, das harte Arbeit gleichsam zum Sinn des Lebens erhebt
und teils auch kritische Worte über andere, (scheinbar) weniger hart Arbeitende
zur Folge hat. Der 1930 geborene HH liefert für dieses Arbeitsethos ein besonders
eindrückliches Beispiel:
HH: Ich hab sehr viel gearbeitet dort, ich konnte von morgens … ich konnte
meine Arbeitszeit aussuchen wie ich wollte. Ich hab viele Male am Morgen
um 6 begonnen und bin um 10 am Abend heimgekommen. Und das wurde
damals aber alles bezahlt. Und war auch vielmals samstags und sonntags
drinnen. Es hat dann noch geheißen, man sollte noch dringend ein Projekt
machen übers Wochenende, wer macht das.
Die einen haben dann gesagt, „ja, ich kann nicht, ich muss fischen“ und der
andre hat gesagt, „ich mach eine Bergtour“ und so hat es meistens mich getrof-
fen. Ich hab zur damaligen Zeit auch ein Haus gebaut, also dieses Anwesen
hier. Und zwar im Jahre 1965 und da war ich natürlich um jeden Pfennig
froh, den ich nebenbei verdienen konnte. Und Sie sehen ja, wir haben ein
38 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 55.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439