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72 modelle sowie Klischees.“40 In der vorliegenden Arbeit werden vor allem festste-
hende Redeweisen als Topoi genauer betrachtet, da eine Analyse der Motive und
Denkmodelle den Rahmen der Arbeit sprengen würden. Dieser eingeschränkten
Definition eines Topos folgend, kann festgestellt werden, dass in den vorliegen-
den lebensgeschichtlichen Erzählungen Topoi mitunter als Stilmittel zum Einsatz
kommen – denn ein Teil der ErzählerInnen verwendet Topoi sehr häufig, andere
greifen so gut wie nie darauf zurück.
In der Analyse der Erzählstoffe spielen verschiedenste Topoi immer wieder eine
auffallende Rolle. Auf Topoi inhaltlicher Art oder auch „inhaltsspezifische Topoi“,
zum Beispiel wenn sie sich auf den Krieg („Man hat uns die besten Jahre gestohlen“)
oder auf die Armut in der Kindheit („Wir hatten nichts, aber wir waren zufrieden“)
beziehen, soll in den jeweiligen Kapiteln im Detail eingegangen werden. An die-
ser Stelle erfolgt zunächst ein Überblick über die wichtigsten allgemeinen Topoi:
Damit sind jene Topoi gemeint, die sich auf die lebensgeschichtliche Erzählung im
Allgemeinen bzw. auf das Leben der befragten Person im Gesamten beziehen. An
ihrem Beispiel sollen die Vielgestaltigkeit und die Funktion von Topoi verdeutlicht
werden.
Joachim Schröder legt in einem Aufsatz fest, dass seiner Auffassung nach
bereits drei Quellenzeugnisse als Beleg für einen Topos ausreichen, und trifft eine
Unterteilung in die Kategorien „Topoi der Beglaubigung“, Topoi zur „Schwierigkeit
der Versprachlichung“, „Topoi des Zeitenvergleichs“, sowie „Topoi der Lebensbi-
lanzierung“. Weitere Topoi fasste Schröder unter „Topoi verschiedenartiger Aus-
prägung“ zusammen.41 Bei der nachfolgenden Betrachtung der häufigsten Topoi
in den lebensgeschichtlichen Erzählungen der MontafonerInnen wird auf diese
sinnvolle Einteilung immer wieder Bezug genommen werden.
Der Topos „Ich habe einen Schmarren erzählt“ bzw. ihm verwandte Topoi wie „Ich
weiß ja nichts zu erzählen“, „Das interessiert doch niemanden“ oder „Lösch nur
die Hälfte [der Aufnahme, Anm.]!“ sind sehr häufig. Sie bringen die Unsicherheit
der ErzählerInnen in der Interviewsituation zum Ausdruck, die mithilfe solcher
Bemerkungen ihre Befürchtungen, eventuell Fehler gemacht oder uninteressante
Details erzählt zu haben, abzuschwächen versuchen. Diese Topoi der Unsicherheit
häufen sich besonders am Anfang und am Ende der lebensgeschichtlichen Erzäh-
lung und stellen mitunter durchaus ernstgemeinte Versuche dar, das Interview zu
beenden. Je nach Zusammenhang sind diese Topoi auch der Kategorie „Topoi der
Lebensbilanzierung“ zuzurechnen.
Quasi als Gegenpol dazu kann der Topos „Da könnte ich viel/stundenlang/
allerlei erzählen“ angeführt werden. Diese ebenfalls sehr häufige Redewendung
möchte den Umfang bzw. auch die Unfassbarkeit des Wissens und der Erinne-
40 Knoblauch, Hubert: Topik und Soziologie. Von der sozialen zur kommunikativen Topik. In: Schir-
ren, Thomas und Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium.
Tübingen 2000. S. 651–667. Hier S. 651f.
41 Schröder: Topoi des autobiographischen Erzählens. S. 20.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439