Seite - 76 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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76 net mithilfe dieser Erzählung auch ein bestimmtes Bild von sich selbst und seiner
Familie. Diese ist nicht nur alteingesessen und weitverzweigt, ihr entsprangen auch
prominente Persönlichkeiten: Der Großvater war „der längste Krautschneider, der
im Montafon gewesen ist“ und reiste bereits im 19. Jahrhundert nach Jerusalem. Auf
den Stellenwert der WanderarbeiterInnen in den Erzählungen der Montafoner-
Innen soll im nächsten Kapitel im Detail eingegangen werden. Schon hier aller-
dings wird deutlich, dass das Prestige der AhnInnen auch auf den Erzähler zurück-
fällt. Außergewöhnliche AhnInnen gehabt zu haben, ist in der Bedeutung für die
Selbstdarstellung einer Person ebenso wichtig wie eine prominente Persönlichkeit
gekannt oder getroffen zu haben.
Andere Erzählungen von den AhnInnen erfüllen weniger den Zweck der Selbst-
darstellung, als vielmehr dass sie unterhalten wollen. Der 1938 geborene ZZ bekam
von seinen Urgroßeltern eine Geschichte überliefert, die dem Genre der Liebesge-
schichte zugeordnet werden könnte und ob ihrer Unglaublichkeit amüsiert:
ZZ: Von Erzählungen kann ich schon etwas erzählen [lacht], sagen wir ein-
mal. Von meiner Urgroßmutter, Urgroßvater. Die Urgroßmutter ist am Verleu
geboren. Der war ja noch früher bewohnt. Und als man die Urgroßmutter
nach Bartholomäberg getragen hat zur Taufe … früher hat man meistens
schon am nächsten Tag taufen müssen. Haben sie sie hineingetragen, haben
die Patin und der Pate und dann der Lutt – […] der ist ist vor Bartholomä-
berg. Wenn man nach Bartholomäberg rauf kommt, links hinaus ist der Lutt.
Und Verleu ist noch viel weiter. Und da sind die mit dem Kind zur Taufe.
Und auf dem Lutt hat ein bestimmter YI – oder J, hat der geheißen? J? War
am Feld arbeiten. Hat am Feld Mist angelegt oder hat gearbeitet. Hat gesagt,
„was bringt ihr da Schönes?“ „Ein Mädl.“ „Ja, darf ich das anschauen?“ „Ja,
darfst schon anschauen.“ Und er hat’s dann gestreichelt und liebkost so. Und
hat gesagt, „das heirat’ ich dann einmal.“
ZZ und I: [lachen]
ZZ: Und die haben dann geheiratet.
I: Ah geh …
ZZ: Die haben geheiratet. Und er war 43 Jahre alt und sie 20, wie sie geheiratet
haben. Und sind im selben Jahr gestorben.
BX, die bereits im Kapitel über die Leitlinien des Erzählens zu Wort kam, flicht in
ihre Biografie ebenfalls eine Episode aus der Familiengeschichte ein. Dabei erklärt
sie die Herkunft des Familiennamens ihrer Mutter und schmückt die Erzählung
aus, wie sie ihr selbst wohl mehrere Male erzählt worden war. Dass Heiraten zu
dieser Zeit nicht unbedingt eine Liebesangelegenheit, sondern vielmehr eine
wirtschaftliche Entscheidung war, wird nur beiläufig angedeutet. BX möchte vor
allem den intensiven Austausch der Menschen aus dem Inneren Montafon mit den
PaznaunerInnen ansprechen. Der Aspekt, dass die ehemalige landwirtschaftlich
geprägte Bevölkerung über die Berge hinweg auch mit den BewohnerInnen der
Nachbartäler in Kontakt und Austausch war, kommt in zahlreichen Schilderungen
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439