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der Befragten vor und erweist sich als beliebtes Erzählthema – vermutlich auch,
weil heute Berge und Gebirge im Gegensatz zu früher eher als trennend denn ver-
bindend erlebt werden.
BX: Die Großmutter mütterlicherseits hat man nie anders genannt als „z’Bära
Maiggi“47. Ich kann mich noch an sie erinnern. Ich bin fünf Jahre alt gewesen,
wo sie gestorben ist. Der Vater … also der Großvater mütterlicherseits ein
Tiroler. Z. Das Geschlecht ist wieder ausgestorben. Das wäre jetzt aber zu
umständlich, wenn ich das erzähle, oder, wie der Z da hergekommen ist.
I: Ja, was hat der gemacht?
BX: […] Die sind auf dem Gaschurnerberg oben auf dem „Hematle“48, wo
mein ältester Bub jetzt ist, der A. Und diese „Ahna“49 hat das „Hematle“
gehabt. Ein „Hematle“ für eine Kuh, eine Kuh und zwei, drei Ziegen. Der erste
Mann ist jung gestorben, hat aber ein Mädchen gehabt. Und wie sollen diese
Leute, damals, keine Unterstützung von keinem. Von was konnten die dann
leben? Da haben sie eben gesagt, wir brauchen einen Mann, wo hilft. Dann
hat sie scheinbar erfahren, dass im Paznaun dort eventuell Männer sind, wo
Frauen suchen. Damals. Dann sind aber noch zwei … der ist von Langen-
steig gewesen. Das geht irgendwo von Kappl geht das hinauf. Ein kleines Nest-
chen. Hat den Mann mit her. Und ist auch ein tüchtiger Mann gewesen. Aber
damals ein Rothaariger. Und ein rothaariger Montafoner … aber immerhin
sie hat ihn geheiratet und hat fünf Mädchen gehabt. Und die jüngste davon,
meine Mama. Fünf hübsche Mädchen. Keine rothaarig. [lacht] Und auch das
Geschlecht, weil es Mädchen gewesen sind, wieder ausgestorben. Z.
Die sogenannte „Weitererzählforschung“ zeigt auf, dass Geschichten, die von
Großeltern erzählt wurden, auf ihrem Weg durch die Generationen erhebliche
Veränderungen, besonders auf der evaluativen Ebene, erfahren. Etwaige Umfor-
matierungen weitererzählter Geschichten folgen zum einen familialen Loyalitäts-
verpflichtungen, zum anderen generationellen und individuellen Sinnbedürfnis-
sen: Man möchte beispielsweise eine spannende oder interessante Geschichte über
die Großeltern erzählen können.
In jedem Fall aber spielen die Geschichten über die AhnInnen eine vielleicht
unbewusste, nichtsdestotrotz bedeutende Rolle für die eigene Identitätsbildung.50
Diese Tatsache kann im nächsten Kapitel am Beispiel der saisonalen Wanderarbei-
terInnen verdeutlicht werden.
47 das Bären-Mädchen.
48 heimatliches Anwesen, Bauernhof.
49 Großmutter.
50 Koch: Weitererzählforschung. S. 165.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439