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80 WD: Immer in Frankreich, wie es früher der Brauch gewesen ist, die alten
Maurer vom Montafon, die sind bis hinunter in die Normandie, bis auf die
Bretagne hinunter, weit nach Frankreich hinein. Viele sind unten geblieben.
Viele Montafoner Ausdrücke kommen auch von dort herauf, eigentlich. Wenn
er dann eine Kuh gerufen hat – und die „Ahna“ auch, die hat das dann über-
nommen – hat sie gerufen: „Comsé! Comsé!“ hat sie die Kuh gerufen. Und
allerhand hat man da … man merkt das überall dann, bei den alten Monta-
fonern, dass diese Ausdrücke noch herum sind. Von den Franzosen-Monta-
fonern.
I: Hat der „Däta“ von dieser Zeit erzählt?
WD: Nie! Gar nichts. Nie. Er ist dann ein Stück, gut zehn Jahre früher gestor-
ben als die „Ahna“.
AC ♂, geboren 1925:
AC: Der „Däta“ ist 1875 geboren, die Mama 1892. Mein Vater ist 40 Jahre
– wie für die Montafoner damals üblich – nach Frankreich ausgewandert.
Er hat einen eigenen Betrieb gehabt, ein Verputzer- und Stukkateurgeschäft,
bis zum Jahre 1938. Die Leute, die nur von der Landwirtschaft lebten, waren
arm. Wir haben dadurch eher ein bisschen mehr gehabt, weil der Däta jedes
Mal mit einem Brief Geld mitschickte. Es waren meistens 100 Französische
Franc. Mitte bis Ende Jänner ging er meistens, zu Weihnachten ist er wie-
der nach Hause. Das war ein wunderbarer Geldschein. Im Sommer sind wir
mit einem kleinen vierräderigen Wagen zum Laden nach St. Gallenkirch und
kauften einen großen Sack Backmehl. Da meinte man, man ist reich. Brot
wurde gebacken. Milch, Fleisch, Butter und Erdäpfel haben wir selber gehabt.
Verhältnismäßig haben wir Kinder zu Weihnachten viel bekommen. Die
Mama konnte unter dem Jahr einiges auf die Seite legen.
KP ♂, geboren 1929:
KP: Meine Eltern sind IP und GP gewesen. Der Vater hat auswärts gearbei-
tet, der war 40, 50 Jahre in Frankreich. Hat er als Gipser und Stukkateur
gearbeitet. So hat’s angefangen. Ich bin dann 36 in die Schule. […] Also, der
Vater ist ja 1883 geboren. Da ist das im Montafon, sagen wir mal, da war
dazumal die Zeit der Krautschneider und der Stukkateure. Stukkateure sind
in die Schweiz oder nach Frankreich. Jetzt ist der Vater von meinem Vater,
also mein Großvater, der ist nach Frankreich ins Saargebiet, hauptsächlich
ins Saargebiet. Und da hat man natürlich die Jungen mitgenommen. Und
so ist der Vater mit seinem Vater ins Saargebiet gekommen. Und später, als
der Vater vom Vater, also mein Großvater, nicht mehr gelebt hat, dann sind
die Nachbarn […] die sind alle nach Frankreich. Und da hat der Vater mit
denen nach Frankreich gehen können. Da sind sie in Südfrankreich gewesen,
in Toulouse sind sie gewesen. Dort haben die gearbeitet. Und danach haben
die einmal einen Auftrag in Tonneins bekommen, so hat das geheißen, das
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439