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ist der Nähe von Bordeaux. Ich glaub 80 km vor Bordeaux. Da hat der Vater
mit seinem Bruder oder mit seinen Brüdern – das sind drei Brüder gewesen –
die haben in Tonneins gearbeitet. Und als sie dort gearbeitet haben, sind alle
Leute gekommen und haben gesagt, „mir könntest du auch was machen“, „mir
könntest du auch was machen“, „und mir könntest du auch was machen!“
Und danach haben sich die Brüder dort selbstständig gemacht und haben dort
ein eigenes Geschäft aufgebaut, […] und haben dort schön Geld verdient. […]
Der Vater hat perfekt Französisch gekonnt, schreiben und lesen! Und hat eng-
lisch gekonnt, spanisch und italienisch!
CY ♂, geboren 1925:
I: Wissen Sie, was Ihr Großvater ungefähr für ein Jahrgang war?
CY: Der Großvater … ja, das ist … das ist … 1885, so. Um das herum ist der
gewesen.
I: Und wo in Frankreich waren die da?
CY: Ah … Wo ist das musikalische Dorf, wo sie so Handorgeln gespielt haben?
[…] manche sind ins Saarland, ins Saargebiet. Dort haben sie auch gearbei-
tet. Aber unter Paris auch noch. Und ich habe ja viele gekannt von diesen
Männern. Und alle sind mit Wohlstand, mit Geld gekommen. Und das Inter-
essante ist gewesen, die sind dann zusammen gekommen im Gasthaus Adler
und da haben sie dann im Adler haben sie … in einem Melkkübel haben sie
den Wein auf den Tisch gestellt und jeder hat können mit so einem Schöpfer
herausnehmen. So sind die nachher gekommen! Die haben den Weintrunk
in Frankreich gelernt! Die haben immer gesagt, zu einem Essen zu Mittag
einen Liter … eine Flasche, eine Literflasche Wein haben die zum Mittagessen
getrunken. Und die haben eben … Das ist Kraft gewesen! Das haben sie eben
wegen dem gemacht. Die sind das gewöhnt gewesen, auf alle Fälle sind sie
nicht betrunken gewesen, die haben ihr Handwerk gemacht. Und die sind, ich
kann nicht sagen, wie viele Jahre dass sie das gemacht haben … Schon früher.
Und die, die wo nach Frankreich sind, da sind manche gewesen, die haben
sich sogar ihr Ding vergrößert. Die haben Ortschaft, die die haben Häuser
gekauft mit Landwirtschaft dabei. Das sind die reichsten Leute gewesen da.
Alle anderen haben da müssen da … Zum Glück ist dann die Illwerke gekom-
men, und dann haben dann die noch ein bisschen ergänzt. Aber die reichen
Männer, das waren schon die … die Frankreicharbeiter.
Die vier ausgewählten Beispiele verdeutlichen die Funktion der Erzählungen von
den „Franzosengängern“: Häufig werden die Namen und Geburtsjahre der Eltern
oder Großeltern genannt, die Familie wird quasi vorgestellt, nicht selten werden
die AhnInnen auch über das Klären von Verwandtschaftsverhältnissen ins dörf-
liche Gefüge eingeordnet. Interessant ist hier besonders, dass ein kurzer Abriss
über die Biografie der AhnInnen als Bestandteil der eigenen Biografie eingebaut
bzw. vorangestellt wird. Der Umstand, dass der Vater oder ein Großvater „Franzo-
sengänger“ war, erscheint als wichtiger Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439