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Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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82 Vier wichtige Aussagen lassen sich aus den Mustererzählungen zu den „Franzo- sengängern“ herauslesen: Erstens waren die Väter oder Großväter in ihrer Rolle als „Franzosengänger“ bekannt im Ort. Sie verdienten besser als die einfachen Bauern, sie waren für man- che Respektspersonen („mit dem grauen Franzosen-Schnauz“, WD), sie hatten als Stukkateure, Gipser, Verputzer und Maurer jedenfalls besonderes Know-How und prägten das Tal durch ihre Auslandserfahrungen – nicht zuletzt auch in bauhisto- rischer Hinsicht. Ihre Sonderstellung betonten sie auch in der Öffentlichkeit. CYs Erzählung vom Melkkübel voller Wein im örtlichen Gasthaus sollen den Sonder- status symbolisieren, den die Saisonarbeiter aufrecht zu erhalten bemüht waren. Wie hoch ihr Sozialprestige im Tal tatsächlich war, oder inwiefern ihnen die Not der saisonalen Migration anhaftete, aus der sie bei ihrer Rückkehr eine Tugend des Reichtums machten, kann aufgrund einer Ansprache eines Kappler Pfarrers von 1825 nur vermutet werden: Er bezeichnete die SaisonarbeiterInnen im Paz- naun als „Winterherren, Langesbettler und Sommerläuser“ und spielte damit auf ihren kurzfristigen Wohlstand im Winter, die erneute Armut im Frühling und die unwürdigen Arbeitsbedingungen während der Sommermonate an.55 Zweitens beherrschten die Väter oder Großväter die französische Sprache und sta- chen durch diese Kompetenz bei verschiedenen Anlässen aus der durchschnitt- lichen Bauernbevölkerung heraus. Verschiedene Quellen dokumentieren, dass die „Franzosengänger“ sich im Heimatort bewusst zu erkennen gaben, indem sie sowohl zuhause als auch in der Öffentlichkeit vermehrt französische Begriffe ver- wendeten.56 Diese Sprachkompetenz färbt, wie die Erzählungen der ZeitzeugIn- nen bestätigen, auf die Angehörigen ab („und die ‚Ahna‘ auch, […] hat sie geru- fen: ‚Comsé! Comsé!‘“, WD) und erhöht gewissermaßen auch das Sozialprestige der Familie. Der Umstand, dass sich im Montafoner Dialekt bis heute französi- sche Ausdrücke erhalten haben („Viele Montafoner Ausdrücke kommen auch von dort herauf“, WD), lässt den „Franzosengängern“ in der Familie die nachträgliche Ehre zukommen, die Sprache des Tales bis heute geprägt zu haben. Nicht zuletzt bewirkte die Sprachkompetenz der „Franzosengänger“, dass diesen besonders in der Besatzungszeit eine Sonderstellung zukam. Der Vater von KP wurde in der Nachkriegszeit beispielsweise Bürgermeister – was im Interview u.a. auf die Fähig- keit, sich mit den französischen Soldaten zu verständigen, zurückgeführt wird. Drittens befand sich durch die Abwesenheit der Väter oder Großväter den ganzen Sommer über die hinterbliebene Familie in einer Ausnahmesituation, die zumeist harte Arbeit für alle Angehörigen bedeutete, das bringt der 1929 geborene GH mit folgenden Worten auf den Punkt: „Und wir haben da müssen natürlich zu der 55 Kasper, Michael: Armut und Reichtum im alpinen Raum. Eine Skizze zur Sozialstruktur im Mon- tafon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseums- vereins 2011. Bregenz 2011. S. 142–161. Hier S. 154. 56 Berchtold, Hannelore: Die Arbeitsmigration von Vorarlberg nach Frankreich im 19. Jahrhundert. (= Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 42) Feldkirch 2003. S. 116.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Untertitel
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Verlag
StudienVerlag
Ort
Innsbruck
Datum
2013
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
15.8 x 23.4 cm
Seiten
464
Schlagwörter
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Kategorie
Geographie, Land und Leute

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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