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Landwirtschaft helfen, schauen, dass das alles weiter geht, ohne dass der Vater halt da
gewesen ist.“ Es den Sommer über ohne Vater oder Großvater geschafft zu haben,
attestiert somit auch der Gattin und den Kindern besonderen Fleiß und Durchhal-
tevermögen.
Viertens ermöglichten die Väter oder Großväter der Familie einen gewissen
Wohlstand. („Da meinte man, man ist reich. Verhältnismäßig haben wir Kinder
zu Weihnachten viel bekommen. Die Mama konnte unter dem Jahr einiges auf
die Seite legen.“ AC). Die Erzählenden erinnern sich an große Einkäufe nach der
Rückkehr der „Franzosengänger“, an große Geldscheine („Es waren meistens
100 Französische Franc. Das war ein wunderbarer Geldschein.“ AC), an viele
Weihnachtsgeschenke oder reichliches Essen im Herbst. Dieser Wohlstand wird
allerdings meist in Relation zur Situation der Durchschnittsbevölkerung im Ort
gesetzt – das zeigen historische Quellen, die erwähnen, dass die meisten Familien
gar nicht überleben könnten, wenn nicht jeden Sommer ein oder zwei Männer als
Handwerker ins Ausland zögen.57
Diesen vier Aussagen liegen, unter Berücksichtigung der Erzählungen über die
„SchwabengängerInnen“, zwei Themen zugrunde: Einerseits wird der besondere
Status der AhnInnen unterstrichen, der im dörflichen Gefüge aber vor allem im
Selbstbild auf die eigene Lebensgeschichte Einfluss nimmt.
Andererseits werden „Franzosen-“ wie auch „SchwabengängerInnen“ (häu-
figer: „KrautschneiderInnen“) heute als wichtiger Bestandteil der Montafoner
Geschichte und damit Identität verstanden. Das verdeutlicht der Einstieg ins Inter-
view mit KP, bei dem gleich anfangs die Namen der Eltern und die Auslandsarbeit
des Vaters erwähnt werden. Die AuslandsarbeiterInnen sind ein Teil der Geschichte
des Tales oder der Familie, der gern erinnert und häufig zitiert wird. Die lebensge-
schichtlichen Erzählungen spiegeln diesen hohen Stellenwert wider. Die besondere
Erwähnung der „Franzosen-“ oder „SchwabengängerInnen“ in der eigenen Fami-
lie versinnbildlicht einerseits Zugehörigkeit, andererseits aber auch Strebsamkeit
und Fleiß der Vorfahren sowie nicht zuletzt den wirtschaftlichen Aufstieg des Tales
selbst: Wo es ehemals notwendig war, dass die MontafonerInnen auswanderten, da
kommen heute ArbeiterInnen ins Montafon, so bemüht sich etwa der 1945 gebo-
rene DD mit folgenden Worten zu betonen: „Wie halt vor 20 Jahren die Anderen
da zu uns gekommen sind um hier zu arbeiten, sind Unsere aus dem Montafon ins
Ausland.“ Die Mustererzählung von den AuslandsarbeiterInnen symbolisiert als
Gegenüberstellung zu heutigen Verhältnissen nicht zuletzt den sozialen Aufstieg
der Erzählenden als Mitglieder einer Wohlstandsgesellschaft.
57 Kiermayer-Egger, Gernot: Zwischen Kommen und Gehen. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
des Montafons. Schruns 1992. S. 34.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439