Seite - 85 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 85 -
Text der Seite - 85 -
85
Stellvertretend für viele andere, sehr ähnliche und vor allem meist lange und detail-
reiche Erinnerungserzählungen zur traditionellen Landwirtschaft soll eingangs der
1930 geborene AZ zu Wort kommen. Die Themenbereiche, die im nachfolgenden
Ausschnitt angesprochen werden, und auch die Art und Weise, wie sie dem Gegen-
über vermittelt werden, sind repräsentativ für zahlreiche andere Berichte über die
traditionelle Landwirtschaft in der Kindheit der Befragten. AZ spricht zuvor über
sonntägliche Bergtouren und die Leidenschaft des Bergsteigens, als ihn eine Asso-
ziationskette vom Stichwort „Sonntag“ hin zur Arbeitswoche und schließlich zum
Jahreskreis in der traditionellen Berglandwirtschaft führt:
AZ: Hat man sich immer gefreut auf den Sonntag. Am Samstag hat man keine
Zeit gehabt. Da musste man ins Holz gehen. Hat man auch die Holzlose60 von
zuoberst aus dem Wald herunter geholt. […] Dann hat man drei Mal hat man
„schlittna“61 müssen […] Aber da ist man etliche Tage dran gewesen, bis man
so ein Los daheim gehabt hat.
I: Ja, ja, das glaube ich.
AZ: Und eben, wenn man vom Monigg herein gegangen ist, dort ist der Weg
aufwärts herein gegangen. Und nachher hat man es wieder herunter „g’re-
sat“62 da. Hinter dem Wasserfall ist es herunter gekommen da. Und da wieder
auf den Schlitten, bis heim herunter. Eben das könnte man sich heute gar
nicht mehr vorstellen. Halt eben, man hat einfach für das nackte Leben hat
man gearbeitet. Eben, man ist Selbstversorger gewesen. Man hat Erdäpfel, hat
man große Stücke angebaut. Weizen hat man angebaut, Gerste hat man ange-
baut. Da hat man halt viel offen63 gehabt. Da hat man Mist gebraucht. Und da
hat man das Mahdheu hat man unbedingt zum Füttern gebraucht, und dass
es wieder einen Mist gegeben hat. Fast jedes Jahr hat man ein Stück anderes
Land umgepflügt. Da der X hat dann zwei Pferde gehabt. Die hat man ausge-
liehen hat zum Pflügen. Der ist im Frühling überall zu den Leuten gegangen,
um zu pflügen. Und da hat man fast jedes Jahr hat man einen neuen Acker
gepflügt. Bzw. im „Wasa“64, das ist der „Wasa“, wenn man das erste Mal pflügt.
Da hat man die Erdäpfel angebaut. Und im älteren Erdäpfelland hat man
dann das Getreide angebaut. Und dann hat man „dia Gärbile“65 gemacht da,
aufgestellt zum Teil. „Gärbile“ gebunden da, sind so „Gärbile“ gewesen. Hat
man es halt aufgestellt da. Dann hat man es auf „d‘Heenza“66 so gestützt.
Und dann hat man es auf dem Stall, hat man es auch wieder trocknen las-
sen, hat man es auch in diese „Bargena“67 hinein getan. Und dann hat man
60 bestimmten Haushalten zustehende Nutzholzmengen.
61 mit dem Schlitten abtransportieren.
62 über eine Riese, steile Bahn rutschen lassen.
63 Ackerboden.
64 Wiesenstück, Grasnarbe.
65 die Garben.
66 Heureiter, Gestell zum Trocknen des Heus.
67 Heustadel.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439