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Beschreibung der ranzigen Butter, die auch in gekochter Form gelb und stinkend
blieb. Im Bewusstsein, dass ranzige Butter heute als verdorben gilt, betont OP die
traditionelle Wirtschaftsweise, in der Milchprodukte einen so hohen Stellenwert
hatten, dass sie in keinem Zustand als schlecht empfunden wurden und vorzeitiger
Verzehr sogar als Frevel ausgelegt wurde.
Sowohl die Alp- als auch die Maisäßwirtschaft werden in den retrospektiven
Erzählungen gerne verklärt und idyllisiert. Dazu dürfte einerseits die Lage abseits
des Tales mit seinem Alltag beitragen, andererseits nicht zuletzt die Literatur, die
hier immer wieder die „Freiheit“ der Alp- und Maisäßleute betont und so selbst
zur kulturellen Vorlage geworden sein dürfte.75 In der Folge sollen zwei Aspekte
dieser Idyllisierung am Beispiel der Erinnerungen an das Leben auf dem Maisäß
einander gegenübergestellt werden:
OP ♂, geboren 1930:
I: Und eben sonst, Maisäßzeit, da hört man öfters so, dass das eher so etwas
Schöneres gewesen ist.
OP: Das ist schön gewesen, ja. Das ist dann schön gewesen.
I: Warum?
OP: Oh, am Abend, wenn schönes Wetter gewesen ist, dann ist man zusam-
men gekommen, auf diesen Maisäßen oben. Von dem Maisäß sind ein paar
gekommen, und dann ist man halt … hell ist es lange gewesen, ist man halt
herum gesprungen und lustig gewesen und gesungen. Und das ist wirklich
… die Maisäßzeit ist schön gewesen. Da ist auch alles oben gewesen, weißt
du. Da ist jeder mit der Familie hinauf. Und da ist nur ein kleines Häus-
chen gewesen, oben. Und da ist jetzt eine kleine Stube und eine kleine Küche
und ein kleiner Keller gewesen. In der Stube ist ein Tisch gewesen und viel-
leicht zwei Bänke, und wenn es gut gegangen ist ein Stuhl, und ein Bett. Und
geschlafen hat man im Heu.
I: Eben, wenn da alle oben gewesen sind …
OP: Ja. Dann hast du im Heu geschlafen.
UF ♀, geboren 1916:
UF: Ich war mit meinen Kindern, als sie noch nicht in die Schule gingen, zwei
Sommer im Gauertal. Und das war wunderbar. Da bin ich natürlich auf allen
drei Türmen gewesen. Und es war so wunderbar am Abend, es war noch
wenig, wenig Betrieb, wenn alles so still war auf der drüberen Seite, wir waren
auf der rechten Seite von der … na, wie heißt sie jetzt?
I: Lindauer Hütte?
UF: Nein, der Fluss. Boah, sehen Sie, das ist jetzt … Das kommt dann schon.
75 Braun, Annegret: Frauen auf dem Land. Eigenständige Landwirtinnen, stolze Sennerinnen, frei-
heitssuchende Sommerfrischler und viele andere von damals bis heute. München 20102. S. 42.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439