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einen Zugfahrschein nehmen? Der 1924 geborene IJ beschreibt den Aufwand, den
seine Familie betreiben musste, um ein wenig Geld dazu zu verdienen:
I: Wie ist Ihre Familie in den 30er Jahren dann eigentlich zu Geld gekommen?
Sie haben gesagt, Sie haben diese Würste in Schruns gekauft, woher hat man
dann das Geld gehabt? […]
IJ: Na ja, ich mein, man hat ja dies und jenes … man hat immer verkauft,
was möglich war. Ich weiß noch, man hat die Butter verkauft, die man selber
hatte, man hat Käse verkauft. Man hat irgendwo irgendwelche Dinge – wie
soll ich sagen? Man hat Milch und Eier gehabt, die hat man auch verkauft.
Man hat so viel wie möglich verkauft von dem, was man irgendwie selber
noch hatte, nicht. Ich kann mich erinnern, man hat Butter verkauft und es
gab in diesen Lebensmittelgeschäften so Päckchen, ähnlich wie Vanillezucker.
Und wenn man diesen mit Milch aufgekocht hat, dann gab’s einen Kunsthonig
und dann hat man diesen Kunsthonig auf’s Brot gestrichen. Und um eben zu
Geld zu kommen, hat man so viel wie möglich verkauft. Es gab Kirschen, da
hat man Kirschen gelesen, dann hat man Kirschen verkauft. […] Man hat
Kirschen, man hat Obst verkauft im Herbst, Äpfel, Birnen, alles, was es gab.
Und was man nicht verkaufen konnte, hat man natürlich auch wieder, wie
soll ich sagen, verarbeitet, gedörrt, nicht. Für den Winter. Oder man hat es
gemostet, von Hand das durchgemahlen und eine Mostpresse gehabt, die man
auch einmal gekauft hat, die nicht schlecht in Stand war, und hat auf die Art
und Weise einen Most gehabt. Soviel wie möglich halt verkauft und mit dem
hat man halt wieder Mehl gekauft oder das, was notwendig war, wenn man
nicht … Es war früher auch üblich, im Laden hat man nicht bar bezahlt, son-
dern man hat ein Büchlein gehabt, da hat man das alles aufschreiben lassen.
Und wenn man wieder Geld hatte, dann hat man wieder bezahlt. Sagen wir,
vielleicht hat man wieder ein Stück Vieh verkaufen können oder irgend etwas
oder irgendwo eine Einnahme. Wir hatten auch ein Pflegekind angenommen
um von dort her noch ein Geld zu bekommen. Von der eigenen Mutter, die in
der Schweiz gearbeitet hat. Nur hat das auch nicht immer geklappt. Je nach-
dem, ob sie einen Verdienst hatte oder nicht. Hat man auch ein Pflegekind
aufgenommen. Wir hatten sogar auch eine Zeit lang eine behinderte Frau in
Pflege genommen um eben von der Seite auch noch etwas Geld zu bekommen.
Wie IJ beschreiben viele weitere ErzählerInnen, dass ihre Familie jede Gelegenheit
nutzte, um zur Landwirtschaft, die vor allem der Selbstversorgung diente, etwas
dazuzuverdienen. Der Zuerwerb stellte nicht erst in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts ein wichtiges Einkommen für Bauernfamilien dar, sondern spielte
nachweislich seit der frühen Neuzeit eine zentrale Rolle. Die Notwendigkeit des
Zuverdiensts erwuchs einerseits aus der gebirgigen, wenig Ertrag ermöglichenden
Topographie des Tales, andererseits aus der Tradition des Realerbteilungsrechts,
das eine immer stärkere Zerstückelung der Fluren nach sich zog.81 Als Überle-
81 Böhler: Das Verschwinden der Bauern. S. 93f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439