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als methodische Hilfsmittel, ein Stück konkret erlebter Geschichte im Alltag zu
vergegenwärtigen.95 Dies kann etwa nach folgendem Muster geschehen, das auch
der 1928 geborene WW für seine Bemerkung zum Preiselbeeren Sammeln wählte:
WW: Früher hat man viel „grentnat“96. In einer halben Stunde hatte ich einen
halben „Kratta“97 voll. Nur von Hand hat man die Beeren geerntet. Heute ist
dort alles verwachsen.
WW schließt seine Erinnerungen an das Beeren Sammeln mit einem Hinweis auf
die heutige Situation, nämlich auf die zunehmende Verbuschung ehemaliger Nutz-
flächen vor allem in den höheren Lagen, ab. Eine andere Darstellungsform des
Wandels wählt der 1930 geborene OP. Im nachfolgenden Ausschnitt beschreibt er,
wie in vielen anderen Passagen, wie die jeweiligen technischen Innovationen den
Arbeitsalltag erleichterten und teils auch revolutionierten:
OP: Und im Sommer hast du einfach auf der Landwirtschaft Arbeit gehabt.
[…] Und da musstest du alles von Hand mähen. Wir haben dann anno 51
haben wir das erste „Maimaschinile“98 gehabt. So ein Reform-Mähmaschin-
chen. Und da hat man gemeint, ja Wunder was. Mit dem Maschinchen sind
wir bis zuhinterst auf den Kristberg hinein, solche Rieder mähen im Herbst
dann, den Leuten. […] Mit dem Maschinchen bin ich da hinaus, auf diesen
Holzrädern, weißt du, auf diesen Eisenrädern, über diesen Weg „ussiknüd-
darat“99. Musst du denken. […] Da hat es noch keine Gummiräder gehabt.
Eisenräder mit diesen Stollen aufgewälzt. Das hat dann ja über diesen Weg
hinauf hat das „knüddarat und gholparat“100. [lacht] Furchtbar. Wenn du
zurück denkst. Aber heute ist diese „Burnerei“101, ist das „a Lallata“102. Ja „a
Lallata“, halt … In drei Tagen hast du so „a Hemat“103 geheut. Heute. Und im
Fernseher bringt er gutes Wetter, und er versteht es auch schon ziemlich gut.
[…]
Und heute, mit diesen Miststreuern, ja das ist, kann man nicht sagen, was das
Wert ist. Und diese Ladewagen und das. Wir haben einen Aebi gekauft anno
80, […] haben wir „Gättr“104 hinauf gemacht, und halt von Hand laden müs-
sen. Ja, hat man gesagt, das ist doch ein göttliches Ding jetzt. Allerdings wollte
auf dieses „Fuadr“105 niemand, da das Heu treten. Aber hat man gesagt, das
95 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 75.
96 Preiselbeeren gesammelt.
97 Korb.
98 kleine Mähmaschine.
99 hinausgepoltert.
100 gepoltert und geholpert.
101 das Betreiben einer Landwirtschaft.
102 eine langweilige Sache; ein Kinderspiel.
103 ein heimatliches Anwesen; der gesamte Besitz eines Bauernhofes.
104 Gitter.
105 hier: das aufgeladene Heu.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439