Seite - 110 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 110 -
Text der Seite - 110 -
110 auch noch so vier Schillinge, am besten vier oder 3,80, und wird dann zurück
gegangen sein so auf 3,60, gell, wo der Taglohn noch vier Schillinge gewe-
sen ist. Aber heute ein halber Stundenlohn mit 80 Schillingen. Weißt du, das
passt nicht mehr. […] Weißt du, es ist nicht so, dass ich jemand etwas nicht
gönnen würde, aber das passt nicht mehr zusammen. Und was die Hirten
heute verdienen. Weißt du, „i halt z’Mul netta, i halt’s netta“119. Die haben
früher immer so, ein Großhirte vielleicht, dort in der schlechten Zeit vielleicht
5 Schillinge, mehr hat er nicht gehabt. Dann sind sie 90 Tage ungefähr drinnen
gewesen. 5 mal 9 sind 45, sind 450 Schillinge gewesen, oder? Und zwischen
450 und 500 Schillinge sind die dreijährigen Rinder gehandelt worden, auf
dem Markt dort. Also hat einer in drei Monaten ein Rind verdient. Und heute
drei und vier und noch mehr verdienen sie.
I: Mmmmh [bejahend].
RR: Weißt du. Aber das, glaub’s mir, das kommt wieder, wie es gewesen ist,
wie in den 30er Jahren. Ich sage immer, das muss einfach noch einmal zurück
gehen. Das muss einfach noch einmal zurück gehen. Ich habe es „fära“120
gesagt, dem Schwärzler [Landesrat, Anm.], vor einem Jahr, auf dem Bartho-
lomäberg oben ist er einmal gewesen. Habe ich gesagt, wenn man nicht noch
ein bisschen gestützt werden würde, dass die Alten nicht noch eine Rente hät-
ten, müsste man verhungern. [3 sec. Pause] Weißt du, es bleibt den Großen
auch nichts mehr. Das frisst alles der Betrieb auf. Die Maschinen bringen dich
um.
Nicht selten sind die Erzählungen über den Wandel in der Landwirtschaft ver-
bunden mit einem gewissen Kulturpessimismus, im Rahmen dessen etwa eine
prinzipielle und umfassende Kritik der modernen Gesellschaft (nicht nur im
Montafon) oder große Sorge um die Zukunft des Tales deutlich zu spüren sind.
Mit dem Rechenbeispiel versucht RR den Wandel eindrücklich zu schildern und
hält auch mit Kritik nicht hinterm Berg, wenn er etwa darauf aufmerksam macht,
dass die finanzielle Abgeltung landwirtschaftlicher Produkte „einfach nicht mehr
zusammenpasst“ mit dem Arbeitsaufwand. Dass man als Bauer heute verhungern
müsste, wenn es keine Rente bzw. keine Förderungen gäbe – dies spricht RR an
anderer Stelle im Interview an –, ist das Resümee, das er aus diesem Wandel zieht.
Interessanterweise spielt der Erzähler mehrmals, etwa mit der Bemerkung „i halt
z’Mul netta“, darauf an, dass seine kritische Haltung gegenüber der geringen Wert-
schätzung der Landwirtschaft an bestimmten Stellen nicht gerne gehört werde.
Der Hinweis darauf, dass er auch dem Landesrat diesbezüglich seine Meinung
gesagt habe, soll einerseits verdeutlichen, wie ernst es RR mit dieser Kritik ist, und
ist andererseits ein Hinweis darauf, dass er auch gegenüber höchsten Stellen „das
Maul nicht hält“. RR macht nicht zuletzt die politischen Entscheidungsträger für
die seines Erachtens missliche Situation der Bauern verantwortlich. Dies wird an
anderer Stelle ausdrücklich bestätigt:
119 Ich halte mein Maul nicht; Ich bin nicht still.
120 letztes Jahr.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439