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RR: Ja, ja, die FB hat ja gesagt, EU würde heißen: Europäischer Untergang.
Und das ist, glaub’s mir du, glaub’s mir. Ich weiß eben schon zu viel. Ich weiß
schon zu viel, was gewesen ist.
I: Mmmmh [bejahend].
RR: Hoffentlich wird es nicht noch einmal so werden, die Landwirtschaft,
wie sie jetzt übrig ist, sonst wird es furchtbar. […] Und heute verwildert das
wahnsinnig. Wir mähen ja auch nicht mehr. Da den „Teifl“121 da oben. Da
hat man immer „Gülla“122 und Mist hinauf getan. Jetzt mähen wir schon vier
Sommer nichts mehr, da unter den Stauden oben auch nicht mehr. […] Da ist
so „an Wuascht“123 drinnen. Ja, wir brauchen es nicht und „miar sen’s nömma
Notz“124. […] Sie haben halt vor ein paar Jahren einmal geschrieben, in der
Zeitung, in der „Neuen“, die Häuser werden so noch Zweitwohnungen geben
für die Städtler. Dass die Ställe zusammenfaulen, das haben sie nicht geschrie-
ben, und dass die Wiesen verwildern, haben sie auch nicht geschrieben. Aber
das kommt. Dann hat der Schwärzler [Landesrat, Anm.] noch gemeint, ja, sie
haben da ein bisschen einen „Regelstoßer“ im Land. Eben wenn einer etwas
kaufen würde, dann müsste er sich verpflichten, weiter zu bewirtschaften halt
noch, gell. Dann habe ich gesagt: Das ist alles miteinander Quatsch. Er kauft
es, und danach macht er auch nichts mehr. Und verjagen könnt ihr ihn auch
nicht mehr. […]
I: Und wie schaut es da mit Förderungen aus?
RR: Ja, wir werden schon ein bisschen gefördert, gell. […] Ja, ja, sonst würde
es nicht mehr gehen. Nein, nein, sonst könnte man nicht mehr leben. Wir
haben grad da das Steilste, wo sie noch am meisten gezahlt hätten, bewirt-
schaften wir nicht mehr. Weil wir es nicht mehr im Stand sind, oder. Und es
wird jedes Jahr drücken sie es herunter. Jetzt hat man sich wieder auf fünf
Jahre verpflichten müssen, dass man es weiter bewirtschaftet. Sonst bekommst
du nichts. Da hat die FB in Vandans gesagt, da die Großbäuerin, wir können
das auch nicht mehr eingehen. Wir wissen auch nicht, wie lange wir noch
„krabblan“125. Und wenn du jetzt aufhören würdest, müsstest du noch zurück-
zahlen, was du bekommen hast. Ja, ja. Minder, als während dem Hitler und
bei den Kommunisten.
RR zieht hier ein trauriges Resümee aus seinen Beobachtungen der Entwicklungen
über die letzten Jahrzehnte. Deutlich geht aus seinen Schilderungen hervor, wie
schmerzhaft es für einen Bauern ist zu erkennen, dass nach ihm niemand mehr
diese Arbeit machen wird, er selbst das alte System nur in Form größter körperli-
cher und finanzieller Anstrengungen aufrecht erhalten kann und schließlich dem
Verfall und Qualitätsverlust des eigenen Bodens bzw. der Wiesen zusehen muss.
121 das Stück.
122 Jauche.
123 wertloses Weidekraut.
124 sinngemäß: „Wir sind nicht mehr dazu im Stande.“
125 sinngemäß: „Wie lange wir es noch schaffen.“
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439