Seite - 114 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 114 -
Text der Seite - 114 -
114 UUs Beispiel zeigt auf, dass nicht alle Aspekte der Modernisierung – hier etwa
die Versicherungspflicht – als positiv empfunden wurden. Insbesondere in der
Übergangszeit von der traditionellen Berglandwirtschaft, im Rahmen derer die
Bäuerinnen und Bauern vor allem in Form von Naturalien oder Tauschgeschäften
handelten und kaum je größere Mengen an Geld besaßen, stellte der allmähliche
Wandel zu einer primär monetären Wirtschaftsweise die Menschen oft vor große
(auch emotionale) Herausforderungen.
Als besonders harte Arbeit galt die Sennarbeit auf den Alpen, da hier frühmorgens
und abends zahlreiche Tiere gemolken sowie die großen Mengen an Milch jeden
Tag zu Butter und Sauerkäse verarbeitet und schließlich den ganzen Sommer über
im Käsekeller gepflegt werden mussten. Hierin, aber auch in der Sonderstellung
der Alpwirtschaft im Rahmen der gesamten Berglandwirtschaft, liegt wohl der
Grund, warum sich zahlreiche Erzählungen über die Modernisierung der Land-
wirtschaft auf die Arbeiten auf den Alpen beziehen. Besonders die Elektrifizierung
der Alpgebäude stellte einen großen Sprung in der Entwicklung dar, wie der 1930
geborene OP berichtet:
OP: Jetzt letztes Jahr sind jetzt … 50 Stück sind drinnen gewesen letztes Jahr.
38 Kühe und 12 Stück Galtvieh, Rinder. Rinder, halt „tregate“129. Und da sind
jetzt ein Hirte, „an gwachsna Ma“130, und ein Senn, „an gwachsna Ma“, und
ein Beisenn, eine Frau, wo auch den Lohn gehabt hat, fast wie die anderen,
und zum Teil noch zwei Buben, musst du denken. Bei diesen paar Stückchen.
Und früher sind 80 Kühe gewesen, mussten sie noch von Hand melken. Alles
noch „abrohma mit Brentana“131. Zum Teil noch von Hand „z’Triebkübl
trieba“132, sind vier Leute gewesen, mit 80 Kühen. Und jetzt sind vier mit 38
Kühen. Und Milchwannen haben wir, Butterfass haben wir, elektrisch alles.
Wir haben Strom drinnen. Musst du nicht einmal kneten, die Butter. Das geht
alles mit der Maschine. Und du musst „ke Brenta meh wäscha“133.
OPs gegenüberstellende Erzählung von der Sennarbeit früher und heute stellt
schon deshalb eine Besonderheit dar, weil heute im Montafon nur noch auf weni-
gen Alpen gesennt wird. Zahlreiche ZeitzeugInnen bedauern diesen Umstand
sehr, häufig auch mit Hinweis auf den „Fremdenverkehr“, für den die fehlenden
Sennalpen einen Verlust darstellen würden. Diese Verknüpfung, die auch im Kapi-
tel zum Tourismus noch thematisiert werden soll, ist besonders in Hinblick auf
den Wandel in der Landwirtschaft sehr verbreitet.
129 trächtige.
130 ein erwachsener Mann.
131 abrahmen mit Milchgefäßen.
132 durch den Treibeimer treiben.
133 kein Milchgefäß mehr waschen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439