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120 bar immer wieder Windeln gewaschen, das war dann unser Trinkwasser. Ist
heute gar nicht mehr vorstellbar.
I: Was war damals normal? Oder war das eine Ausnahme?
BB: Nein, das war normal. Anders haben wir’s nicht gekannt. Und im Winter
ist das irgendwo abgefroren. Im Winter mussten wir dann vielleicht 200 m
mit einem großen Holzgefäß Wasser holen. Dann hat man das … ja. Früher
haben wir das sowieso nur in der Tränke gehabt, beim Stall. Und das Wasser
musste man dann in die Küche tragen. Wasser vom Brunnen hat man sowieso
nicht trinken dürfen, da sind dann die „Wasserkalbla“ gekommen. So wie ein
Faden sind das Tiere im Wasser. Die sind 10, 15 cm lang.
BB stellt dar, welchen großen organisatorischen und demokratischen Aufwands
es bedurfte, die verschiedenen kleinen privaten Quellen, die mehrere BesitzerIn-
nen teilten, zu pflegen, und welche Schwierigkeiten sich dabei ergaben, da die
Wasserversorgung ein wichtiges und extrem empfindliches System darstellt. Der
Anschluss an eine Gemeindewasserleitung 1951 brachte der Bevölkerung hier
große Erleichterungen und Zeitersparnis. Wie die meisten anderen ZeitzeugInnen
verwendet auch BB zur Unterstreichung seiner Darstellungen den Topos „Ist heute
gar nicht mehr vorstellbar.“
Die Elektrifizierung der Haushalte stellte Anfang des 20. Jahrhunderts einen der
größten Modernisierungsschübe überhaupt dar, insbesondere, wenn die daraus
folgenden weiteren Modernisierungsmöglichkeiten in Form verschiedener Tech-
nologien und Maschinen miteingerechnet werden. Die ersten elektrischen Klein-
kraftwerke im Montafon außerhalb von Schruns – erbaut 1904 in Gaschurn und
1912 in St. Gallenkirch – versorgten zunächst noch Hotels mit elektrischem Licht,
während private Haushalte nur in einzelnen Fällen nebenbei mitbeliefert wur-
den.135
Die Möglichkeit des elektrischen Lichtes, wenn von ihr anfangs auch nur sehr
spärlich Gebrauch gemacht wurde, stellte schon an und für sich eine Revolution
dar. So ist es wenig überraschend, dass die Elektrifizierung und ihre Auswirkungen
auf den Alltag der Menschen einen großen Stellwert in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen haben. Die Erinnerungserzählungen drei der ältesten ErzählerInnen
sind diesbezüglich besonders interessant, da sie vermitteln, wie sehr das elektri-
sche Licht zunächst einem Wunder glich:
EF ♂, geboren 1910:
EF: Der Vater hat anno 17 … hat er dann da einen Dynamo hin gebaut,
eine Rohrleitung hinauf gemacht, Wasser vom Bach geholt. Dann hat man
eine Rohrleitung gemacht. Dann hat man da eine Turbine hin gemacht. Und
dann hat man da einen Dynamo unten gehabt. Und das ist gewesen anno 17
ungefähr. Und dann haben wir da halt Licht gehabt, da Strom, gell. Aber das
135 Kiermayr-Egger: Zwischen Kommen und Gehen. S. 140.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439