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124 ist da schon arm gewesen. Wenn der Papa mit uns einen Ausflug gemacht hat,
dann hat man beim Wolf einen Fotoapparat ausgeliehen, dass man ein paar
Bilder gehabt hat. Und so haben wir genauso diesen Radio gehabt.
JJs Beschreibung zeigt, dass die meisten Technologien schon viel länger verfügbar
waren, bevor sich die einfachen, meist von der Landwirtschaft lebenden Familien
im Montafon diese leisten konnten. Schilderungen wie jene JJs sollen nicht zuletzt
die Armut in der damaligen Zeit unterstreichen, wie der Erzähler das ja auch mit
dem Kommentar „Man muss sich vorstellen, man ist da schon arm gewesen“ unter-
streicht. Dieser Hinweis unterschlägt, dass Technologien wie ein Radio zur dama-
ligen Zeit relativ betrachtet natürlich sehr teuer waren. Die Tatsache, dass sich eine
Familie kein Radio leisten konnte, weist unter Umständen weniger darauf hin, dass
sie arm war, sondern zeigt vielmehr auf, dass ein derartiges Gerät für einfache Ver-
dienerInnen nicht leistbar war. Die 1904 geborene EV beispielsweise betont näm-
lich, dass beim Kauf mitunter darauf geachtet wurde, wer unter den NachbarInnen
und Bekannten bereits ein bestimmtes Gerät hatte: „Wenn der eine das gehabt hat,
dann hat der andere auch so eins wollen.“ Erzählungen wie jene über das Radio in
JJs Familie erfüllen somit vor allem den Zweck der Verdeutlichung, wie einfach das
Leben in den 1930er Jahren war.
Einen weiteren großen Schritt der Modernisierung im 20. Jahrhundert stellte die
Anbindung der Haushalte an das Telefonnetz in den 1930er Jahren dar, wobei
hier die Anschlüsse noch von mehreren Häusern geteilt wurden, wie sich der
1927 geborene BD erinnert. Auch in dieser Erzählung erfolgt die Darstellung des
monetären Werts in Form eines Vergleichs mit rechnerischen Maßeinheiten aus
dem bäuerlichen Leben. Sie dokumentiert die Verankerung der Erzählung in den
historischen Zusammenhängen, wie sie vermutlich durch wiederholtes Erzählen
gefestigt wurde:
BD: Anfang der 30er Jahre haben wir das Telefon bekommen, mit dem Gast-
haus Hirschen zusammen. Wir haben eine Leitung gemeinsam gehabt, bei
uns hat es drei Mal, beim Hirschen zwei Mal geläutet. Der Telefonanschluss
kostete damals den Wert einer Kuh.
Die ersten Waschmaschinen revolutionierten die Hausarbeit ab den 1940er Jahren,
Kühlschränke, Staubsauger, Elektroherde etc. wurden erst nach dem Zweiten Welt-
krieg üblich bzw. leistbar für die MontafonerInnen. Die Bedeutung dieser modernen
Maschinen war für die Menschen, die bislang alle Arbeit an Haus und Hof von Hand
verrichten mussten, zwiespältig. Einerseits hatte man sich bislang auch ohne maschi-
nelle Unterstützung zu helfen gewusst, andererseits bedeutete die plötzliche Erleich-
terung einen immensen Zeitgewinn. Die Freude war groß, wenn man der Maschine
beim Verrichten der Arbeit zusehen konnte, wie der 1929 geborene KP hier erzählt:
KP: Da, das ist einfach eine ganz andere Zeit. Ich weiß, als wir verheiratet
gewesen sind, wir haben nichts gehabt. Nichts! Gar nichts. Kein …, nichts,
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439