Seite - 135 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 135 -
Text der Seite - 135 -
135
Erzählenden deutlich Abstand von bestimmten Praktiken, wie dies QR mit dem
Kommentar „Mich hat es damals schon gestreckt“ zum Ausdruck bringt.
Beschreibungen der sanitären Verhältnisse, wie sie auch JJ am Beispiel der Situ-
ation in den Schulen anstellt, werden kaum je positiv dargestellt. Eher werden
Plumpsklos, Waschschüsseln oder die Hygienestandards leicht ironisch beschrie-
ben – bzw. auch relativiert, wie dies auch bei JJ der Fall ist: „Da sieht man selber
schon, das ganze Leben ist etwas anderes gewesen. […] Aber da hat sich niemand
etwas draus gemacht zu dieser Zeit.“ JJ betont, analog zum Topos „andere Zeiten,
andere Sitten“, dass sich der einstmalige Alltag kaum mit dem heutigen vergleichen
ließe, und unterbindet damit vorab jede Bewertung, die dem Erzähler und seinen
historischen Figuren mangelnde Hygiene oder Sauberkeit unterstellen könnte.
Ganz im Gegenteil werden anhand der einfachen Verhältnisse und mangelnder
maschineller Unterstützung eher die großen Anstrengungen in der Bemühung um
Sauberkeit herausgestrichen. KL etwa zeigt auf, welche Leistung ihrer Mutter es
war, die von der Arbeit völlig verdreckte Wäsche quasi mit der Hand sauber zu
waschen. Die rhetorische Frage „Ich denke mir vielmal, wie hat sie es auch noch
gemacht?“ soll einmal mehr unterstreichen, wie unvorstellbar heute die einstigen
Herausforderungen und Anstrengungen im Rahmen alltäglicher Arbeiten sind.
Mit der harten Arbeit einher gehen die Beschreibungen besonderer Sparsamkeit:
„Und man ist so sparsam gewesen. Ja ich glaube sogar das Abwaschwasser hat man
zum Stall hinüber getragen, diesen Schweinen“, erzählt KL. In vielen biografischen
Erzählungen, häufig in jenen von Frauen, wird der Fleiß, die Anspruchslosigkeit
und die Sparsamkeit der eigenen Mutter, meist am Beispiel alltäglicher Situatio-
nen oder Arbeiten, beschrieben, und nicht zuletzt als Vorbild und Prägung für
das eigene Handeln angeführt. Dieses Idealbild der fleißigen, sparsamen Frau ist
einerseits auf die bereits erwähnte hohe Arbeitsmoral dieser Generation zurückzu-
führen, spiegelt aber auch die typische Rolle einer Frau und Mutter wider, wie sie
den Frauen in der Neuzeit, besonders aber im 19. Jahrhundert und bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts zugedacht wurde.
DDs Erzählungen über den Alltag sind besonders interessant, denn sie fokussie-
ren weniger bekannte Details alltäglicher Arbeiten. Der Erzähler bemüht sich im
Interview, dem Gegenüber Erinnerungen und Informationen zu vermitteln, die er
für besonders außergewöhnlich hält. Der Bericht von einem Vorfahren, der sich
erinnern konnte, wie man früher selbst Zündhölzer mithilfe von Schwefelablage-
rungen in Gargellen herstellte, ist natürlich weniger biografisch als vielmehr his-
torisch relevant. Die Beschreibung der Praxis des Schneeräumens erfüllt ebenfalls
vor allem die Funktion der Vermittlung spezifischen Wissens über Alltagsarbeiten
im Winter. DDs Erzählung ist geprägt vom Topos „Heute ist das unvorstellbar.“
Diese Formulierung bzw. auch Grundaussage etwa in Form von „Das glaubt dir
heute kein Mensch“ (KP), oder „Das können sich die Jungen gar nicht mehr vorstel-
len“ (DW) wird in einem Großteil der Interviews mehrmals verwendet und soll
auch in Bezug auf den Erzählstoff „Alltag“ den extremen sozialen, wirtschaftlichen
und lebensweltlichen Wandel unterstreichen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439