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I: Aber der war sehr teuer wahrscheinlich, oder?
XX: Ah, nichts Besonderes. Und einmal ist dann im Fasching … da kamen
manche maskiert. Und die haben dann auch getanzt. Und unsereins hat
mittanzen müssen. Das war dann so lustig. Und das waren, wie gesagt, alte
Leute. Alte Leute kamen. Da hat eine Junge nicht ohne Eltern dürfen, bis sie
18 Jahre alt war, hat sie nicht ohne Eltern auf den Ball gehen können.
I: Ach so?
XX: Heute ist das nicht mehr.
Mit dem anonymen „man“ in XXs Feststellung „Dort hat man dann auch einan-
der kennen gelernt“ bringt die Erzählerin zum Ausdruck, dass ein Kennenlernen
anderer junger Menschen im Rahmen eines Balles häufig der Fall war. Nicht ganz
eindeutig ist, ob die Erzählerin hier auf neue Bekanntschaften mit Personen außer-
halb der Dorfgemeinschaft anspielt oder aber eine andere Dimension des Begrif-
fes „Kennenlernen“ anspricht: Erst im Rahmen eines Festes oder eines ähnlichen
Anlasses war es möglich, länger miteinander persönliche Gespräche zu führen
und auch intimere Beziehungen zu knüpfen. Dass letztere Interpretation durchaus
zutreffend ist, wird im Kapitel über Liebesgeschichten genauer ausgeführt werden.
Auch die Beschreibung XXs, ein Zuckerstück zum Süßen des Weins mitge-
nommen zu haben, weist eher beiläufig auf Gewohnheiten hin, die interessante
Einblicke in alltägliches Verhalten und Bewertungen – sowie Hinweise auf die
Qualität des Weines – erlauben. Ein näherer (Rück-)Blick auf die Gewohnheiten
der Gesellschaft der 1920er, 1930er und 1940er Jahre im Montafon soll in nachfol-
genden Kapiteln unternommen werden, da die Beschreibungen der ZeitzeugIn-
nen soziokulturelle Gewohnheiten betreffend zumeist an ein bestimmtes Thema
gebunden sind – wie das etwa in der Erzählung XXs über die Feuerwehrbälle im
Kapitel über die Liebesgeschichten der Fall ist.
Auch dem Erzählstoff der traditionellen Bräuche sind zahlreiche und umfas-
sende Berichte gewidmet, da beispielsweise gerade der Funken oder andere regi-
onale Bräuche, ähnlich wie dies bei den „Franzosengängern“ der Fall ist, zentraler
Bestandteil der Montafoner Identität sind. In einigen Interviews brachte der/die
InterviewerIn die Sprache auf das Thema der Bräuche, woraufhin die ZeitzeugIn-
nen zahlreiche Anekdoten zu verschiedensten Formen traditioneller Bräuche zum
Besten gaben. Das Weihnachtsfest stellte häufig einen gezielt abgefragten Themen-
bereich dar, der von den ErzählerInnen von sich aus vielleicht deshalb weniger
erwähnt wurde, weil die Rolle dieses heute sehr wichtigen Festes früher weitaus
geringer war. Der 1934 geborene CD ist persönlich an den historischen Formen
verschiedenster Bräuche im Montafon interessiert und bemühte sich im Inter-
view, seine Erinnerungserzählung mit Einblicken in verschiedenste soziokulturelle
Gewohnheiten zu ergänzen. Thema der nachfolgenden Erzählung ist der Niko-
laus-Brauch im Montafon in den 1930er und 1940er Jahren:
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439