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144 Der Funkenbau bzw. das Abbrennen des Funkenturms am Funkensonntag bleibt
in den Montafoner Erzählungen in Bezug auf Bräuche kaum je unerwähnt. Häufig
wird die Persistenz, oder aber auch der Wandel von Traditionen an seinem Beispiel
thematisiert – wie das auch in der letzten Erzählung CDs der Fall war.
Die 1924 geborene GT und der 1925 geborene FU legen in ihrer nachfolgenden
Beschreibung keine Aussage, Botschaft oder Bewertung zugrunde. Angespornt
von der Erzählsituation bemühen sich beide, möglichst viele Details rund um den
Funkenbrauch zu rekonstruieren:
FU: Der Funken, der ist jedes Jahr gewesen. Den hat es jedes Jahr gegeben.
Jedes Jahr. Aber nicht so wie man heute „funknat“169. Das hat es früher nicht
gegeben. […] Jeder Bauer hat da Ziegen und Schafe gehabt. Und da hat er
„Garba“170 gehabt. Sagen wir aus „Hasla“171.
GT: […] Das haben die so ausgefressen, „dia Löberi“172, die Ziegen, hauptsäch-
lich die Ziegen, dass man nur mehr die Stängel … halt „Gretza“173 hat man
gesagt. Und dann, diese „Gretza“ hat man halt heraus getan auf einen Haufen.
Und dann im Winter, wenn „d’Funkner“174 herum gewesen sind, haben sie
dann diese „Gretza“ geholt. Jeder Bauer, das hat dann ja einen Berg gegeben.
Und diese „Gretza“ haben sie dann genommen, um den Fuß zu machen beim
Funken. Und dann hat man halt Latten gestellt. […]
FU: Und dem Boden nach ein großer … wie soll ich sagen? Vielleicht vier,
fünf Meter dick, so einen Fuß gemacht, mit halt auch mit allerhand. Der eine
hat Bäume ausgeschnitten, hat man solche „Gratza“175 bekommen. Und dann
irgendwo „Schiet“176 bekommen. Dann hast du gemeint, Wunder was, gell.
GT: Die hat man dann gespart. […]
FU: Am Mittwoch und Samstag am Nachmittag hast du keine Schule gehabt.
Im Winter. Dann musstest du „funkna“177. Wehe dir, wenn du nicht „funkna“
gekommen bist. Weißt du, da ist schon so einer gewesen, der das aufgeschrie-
ben hat.
I: Ah so?
FU: So wie ein Funkenmeister. Wehe dir, wenn du nicht so und so viel „ga
funkna“ gekommen bist, durftest du nicht zum Funken.
I: Ah wa?
FU: [lacht] Ja, ja. Dann bist du halt auch mit dem Däta und mit der Mama
heimlich gegangen. Aber öffentlich hättest du nicht zum Funken dürfen, wenn
du nicht, sagen wir vier oder fünf Mal „funkna“ bist, dann durftest du ein-
169 den Funken macht.
170 Garben; Büschel aus Laubzweigen.
171 Haselstauden.
172 das Laub.
173 dürre Zweige.
174 die Funkenbauer.
175 Ast; Zweig.
176 Holzscheite.
177 hier: beim Funkenbau helfen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439