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fach nicht zum Funken kommen. Dann ist man halt früher auch zum Funken
gegangen, wie man heute auch. […] Eben jeder wollte. den schöneren Funken
haben und den größeren. Das ist dann halt schon gewesen. Ja, ich weiß jetzt
grad … Eben wenn du irgendwo „a Schiet öberko hosch“178 oder „an Trolr“179,
wo du noch Holzscheite machen konntest, ja dann hast du halt auch gemeint,
Wunder was du dann hast. Und gedankt und gedankt. Nur mit „Vergelt’s Gott
und Salz’ Gott“180. Mehr hast du da nicht gehabt. Da hast du schon nur gebet-
telt. Von Haus zu Haus bist du da gegangen.
Die beiden ErzählerInnen sind völlig in den Inhalt ihrer Erzählung vertieft und
reflektieren an dieser Stelle nicht die Bedeutung des Brauches oder seinen Wandel.
Nur einmal stellt FU eingangs fest, dass man in seiner Kindheit „nicht so wie man
heute funknat“ gefeiert hätte. Abgesehen von diesem Hinweis liegt den Erzähler-
Innen besonders am historischen Ablauf und an den Zusammenhängen. Diese
Tatsache ist auch bedingt durch die Erzählsituation, in der sich die beiden Zeit-
zeugInnen gegenseitig zum Weitererzählen und zum Rekonstruieren der kleinsten
Details anregen. Allzu detaillierte Beschreibungen wurden aus Gründen der Les-
barkeit aus obigem Ausschnitt ausgenommen, die Kernpunkte der Erzählung wer-
den dennoch deutlich: Zunächst beschreiben die ErzählerInnen die Laubgarben
(„Gretza“), ihr Aussehen, die Technik des Garbenbindens und ihren Zweck – im
Wissen, dass diese Technik heute nicht mehr praktiziert wird. Anschließend wen-
det sich die Erzählung dem Funkenbau zu, einerseits der Bautechnik, andererseits
aber auch dem Stellenwert in der dörflichen Gemeinschaft. Junge Buben hatten
beim Bau mitzuhelfen, sonst verloren sie quasi das Recht, beim Anzünden dabei zu
sein. Und schließlich schildert FU die Praxis des Holz-Sammelns für den Funken,
für den die Kinder von Haus zu Haus „betteln“ gehen mussten.
Die Tatsache, dass sich Bräuche und soziokulturelle Gewohnheiten im Laufe der
Jahrzehnte mitunter stark veränderten oder schließlich gar nicht mehr praktiziert
wurden, regt die ErzählerInnen – ähnlich wie dies bei der Beschreibung alter
(landwirtschaftlicher) Techniken der Fall ist – zu sehr ausführlichen Schilderun-
gen an. Teils ist sogar die Freude der Gewährsleute zu spüren, dass sie ihr Wissen,
das mit ihrem Tod vielleicht verloren gehen könnte, nun doch interessierten Per-
sonen, oder gar dem Archiv des regionalen Heimatmuseums, überantworten und
damit sichern können.
FU und GT erweisen sich, einmal in Fahrt gekommen, als sehr ausdauernde und
begeisterte ErzählerInnen, die zum Thema Bräuche in der traditionellen Gesell-
schaft viel und detailliert berichten können. Aus diesem Grund soll hier ein wei-
terer Ausschnitt aus ihren Erzählungen nachfolgen. Beschrieben werden Bräu-
che und soziokulturelle Gewohnheiten, die im Arbeitsumfeld eines Ziegenhirten
178 einen Holzscheit bekommen hast.
179 kurzes Rundholz.
180 traditionelle Redewendung für „Danke“.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439