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bisschen ein Handel. Einfach zum Austauschen. Halt einmal, das ist schon ein
ganz ein wichtiges Kommunikationsding, der Messgang. Aber als Bergfreund
oder Bergsteiger ist das natürlich nicht das Ideale gewesen. Jetzt hat man die
Möglichkeit, dass man am Tag davor oder am Sonntagabend in die Messe
gehen kann. Aber das sind die Vorteile und Nachteile. Was aber auch wahn-
sinnig schön war, war dann noch, als die Leute das Wasser beim Brunnen
holen haben müssen. Das war das Kommunikationszentrum für die Frauen.
Heute ist das Kommunikationszentrum der Abfallcontainer. Restmüllcon-
tainer, Eisen, Metall, Glas. Wo die Leute zusammen kommen. So hat sich das
verändert. [lacht]
Der werthaltige Endpunkt LMs Erzählung thematisiert den Wandel in einer Gesell-
schaft, in der Kirche und Religion in verschiedener Hinsicht eine wichtige Funk-
tion erfüllten. Sei es als wichtiger Treffpunkt vor der Kirche, sei es als persönliches
Bedürfnis, der prekären Lage mit religiösem Glauben in Form von Prozessionen
oder Gebeten entgegenzutreten. LM stellt jeder Beschreibung einer Situation in
seiner Kindheit einen Vergleich mit den heutigen Umständen gegenüber. Beson-
ders gegen Ende des Ausschnittes klingt Kritik an der mangelnden Religiosität
und vor allem Dankbarkeit der heutigen Gesellschaft, wie LM sie sieht, durch. Von
kulturhistorischem Interesse sind in dieser Erzählung beispielsweise die Hinweise,
dass die Ministranten mit der Opferbüchse auch vor die Kirche gingen um zu kas-
sieren, oder dass vor der Kirche unter den Männern auch gehandelt und Geschäfte
abgeschlossen wurden.
In DDs Darstellung finden sich insofern Parallelen zu LMs Erzählung, als
auch hier der Wandel in der Gesellschaft nachgezeichnet wird, indem die eins-
tige Kommunikation im Ort heutigen Verhältnissen gegenübergestellt wird. DD
beschreibt die sonntägliche Spätmesse sowie den Brunnen im Ort als ehemalige
soziale Zentren der Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft. Heute hingegen,
so stellt er gegenüber, passiere Kommunikation vor allem am Recyclinghof – mit
diesem werthaltigen Endpunkt seiner Geschichte kommentiert DD den Wandel
auf scharfsinnige, gleichsam ironische Art.
Das Kapitel zum Thema Bräuche und soziokulturelle Gewohnheiten abschließen
soll erneut eine Erzählung des 1945 geborenen DD, der hier die soziokulturelle
Gewohnheiten im Rahmen einer Beerdigung beschreibt, indem er jeweils betont,
was ihm an der alten Praxis gefällt, und diese dem heutigen Ablauf gegenüberstellt.
DD: Aber was eigentlich früher auch sehr berührend war, war auch wenn
jemand gestorben ist. Dann ist nachher den Leuten helfen gegangen. Auf-
bahren, das hat man selber gemacht. Das haben die Nachbarn, die haben ein
bisschen durch weiter … das hat man dann auch selber beherrscht. Dann
hat man ihn aufgebettet. Und dann sind natürlich die Leute zum Beten ins
Haus gekommen. Da sind die Stühle zu wenig geworden und die Bänke. Dann
hat man Holz, also Laden reingelegt, dass die Leute drauf sitzen haben kön-
nen. Ja, und die Leute waren dann noch im Vorhaus draußen. Also das war
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439