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auf die Kindheit der Befragten dar. „Armut“ ist allerdings, wie zahlreiche For-
schungen zum Thema deutlich zeigen,191 ein relativer Begriff. Armut und Reich-
tum hatten zu jeder Zeit eine andere Bedeutung und kannten – eingebettet in den
jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und geistigen Kontext – mehrere
Abstufungen.192 In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass bei-
spielsweise die Bewertung der „Armut in der Kindheit“ rückblickend erfolgt und
somit einmal mehr die Mechanismen der retrospektiven (Re-)Konstruktion der
eigenen Lebensgeschichte sowie auch den Wandel in der subjektiven Wahrneh-
mung von Armut veranschaulicht.
Diese retrospektive Konstruktion wird besonders in jenen Erzählungen augen-
fällig, in denen gleich zu Beginn des Interviews auf die Armut hingewiesen wird.
So stellt etwa der 1924 geborene UU gleich eingangs fest „Ja ja, wir waren halt arme
Leute“ und der 1915 geborene YB antwortet auf die Frage nach der Kindheit „Da
waren arme Zeiten“. Diese Klarheit in der Feststellung weist gleich vorab auf ein
Erzählstereotyp zum Thema Armut hin, das innerhalb der Erinnerungsgemein-
schaft gepflegt und weitertradiert wird. Vielfach gehen die ErzählerInnen in der
Folge gar nicht darauf ein, wie denn diese Armut spürbar gewesen sei, sondern
stellen der Geschichte ihrer Kindheit diesen werthaltigen Endpunkt quasi voraus.
Andere sprechen nicht direkt von der Armut, sondern beschreiben dem bereits
bekannten Schema folgend die einfachen Verhältnisse, unter denen sie aufwuch-
sen, um sie anschließend der Situation heute gegenüberzustellen. Auch so wird
ein deutlicher Eindruck der Armut, eben einer relativen Armut, erzeugt – der ja
vor allem aus der Perspektive der heutigen Wohlstandsgesellschaft festgestellt wer-
den muss. Dass die Jahrzehnte vor den eigenen Kinderjahren unter Umständen
wirtschaftlich noch schwieriger waren, wird hier ausgeblendet. In der Darstellung
zählt allein der Vergleich mit heute, wie die Erzählung des 1942 geborenen QR
verdeutlicht:
QR: Und damals ist auch die Landwirtschaft ein bisschen mehr wert gewe-
sen. Insgesamt schon vom ideellen Wert her, hat man das schon mehr „eschti-
miart“193 als heute. Und wenn man daran denkt, wenn man so ein Rind … wir
haben jetzt nie grad weiß Gott was für Spitzentiere auch nicht gehabt. Aber
vielleicht so um 8.000 bis 9.000 haben wir dann „a Rindle“194 verkauft, beim
Schrunser Markt. Und da mussten wir das ganze Jahr davon leben. Da hat die
Mama – was ist es damals gewesen – um die 120 oder 150 Schilling Kinderbei-
hilfe gehabt. Und das ist alles gewesen. „Und do isch em net z’wohl warda.“195
I: Nein, das ist natürlich nicht gerade …
QR: Ja. Das ist dann ziemlich mager so. Wenn sie dann da heute reden vom
191 Wohlfahrt, Gerhard: Einkommensverteilung in Österreich. In: Armutskonferenz u.a. (Hg.): Was
Reichtümer vermögen. Warum reiche Gesellschaften bei Pensionen, Gesundheit und Sozialem
sparen. Wien 2004. S. 14–40. Hier S. 14.
192 Kasper, Michael: Armut und Reichtum im alpinen Raum. S. 143.
193 geschätzt.
194 ein Rind.
195 Da ist es einem nicht übermäßig gut gegangen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439