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156 KKs Kindheit „traurig“ war, wie sie selbst es bezeichnet, soll keinesfalls relativiert
werden.
Zahlreichen Erzählungen, die Armut in der Kindheit thematisieren, ging der Tod
des Vaters oder der Mutter voraus. Einige der Befragten verloren ihre Väter im ers-
ten Weltkrieg oder auch in den darauffolgenden Jahren als Spätfolge des Krieges.
Der 1910 geborene TG erinnert sich an die schwierige Situation, die seine Mutter
nach dem Tod ihres Mannes im Zuge der pandemischen Spanischen Grippe196 zu
meistern versuchte, obwohl sie selbst schwer krank war:
TG: Und dann ist der Däta vom Krieg gekommen. Krank, „muskrank“197,
1918 im November ist er nach Hause gekommen. Und im Dezember ist er
gestorben. Ja. Und die Mama – das ist am 18. Dezember gewesen – und die
Mama hat man am 24. „versaha“198, der Pfarrer. Weißt du schon, was „ver-
saha“ ist? „Versaha“. Ja. Und damals, da ist eine furchtbare Grippe gewesen,
anno 18. Ganz eine schwere Grippe. […] Und damals ist der Vater gestorben.
Und die Mama hat keine Rente bekommen. Der hätte sollen im Krieg für Gott
und Vaterland fallen, dann hätte sie eine Rente bekommen. Und da hat sie
uns ohne Rente aufgezogen, die Mutter. „Im a kliena Burschäftle“199. Und da
ist noch das Geld übrig geblieben, so zwei Jahre hat es noch gehalten, was der
Vater hinterlassen hat. Und danach hat sie kein Geld mehr gehabt. Jetzt ist sie
zum Bürgermeister, […] habe sie zum Bürgermeister gesagt, sie wisse nicht
mehr wie machen, sie habe kein Geld und kein Holz mehr zum Heizen. Und
da habe der Bürgermeister gesagt: „Bring du die Kinder ins Armenhaus und
du gehe dienen“. Damals ist das so zugegangen. Und welche Mutter bringt das
fertig? Ha? Welche? Die hat kein Kind her… die hat weiter geschuftet. Habe
sie gedacht, „ja das nützt nichts. Die geben mir kein Geld. Ich muss jetzt halt
„wieterworschtla“200, mit diesen Kindern“. Und hat auch „wietergworschtlat“.
Und beim uns Aufziehen ihre Gesundheit geopfert, ja. Ist so früh gestorben
dann mit 64 Jahren.
Die Situation alleinerziehender Eltern war, wie TG und viele andere ErzählerInnen
es beschreiben, prekär. Staatliche bzw. öffentliche Unterstützungen wurden, wenn
überhaupt, nur in marginalem Ausmaß gewährt. Die Kinderzahl lag weit über dem
heutigen Durchschnitt, die Familie oder Dorfgemeinschaft konnte, gerade in wirt-
schaftlich schwierigen Zeiten, nicht ausreichend Unterstützung gewähren. Einen
Elternteil zu verlieren bedeutete für die meisten Familien, an bzw. auch unter der
Armutsgrenze zu leben.
196 Vgl. Cathomas-Bundi, Maria Cristgina: Gott muss mir geholfen haben. In: Cathomas-Bearth,
Rita u.a. (Hg.): Erzählenhören. Frauenleben in Graubünden. Chur 20003. S. 81–108.
197 sehr krank.
198 mit den Sterbesakramenten versehen.
199 auf einer kleinen Landwirtschaft.
200 weiterwurschteln, weitermachen unter schwierigen Bedingungen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439