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XXs zentrale Aussage kann mit „Wir waren arm, haben aber nicht viel verlangt und
konnten durch harte Arbeit relativ gut leben“ zusammengefasst werden. Kulturhis-
torisch interessant sind in diesem Ausschnitt besonders zwei Aspekte: Erstens zeigt
XX deutlich auf, welch geringe Rolle bares Geld bis ins Erwachsenenalter hinein
spielte. Die Familie besaß kaum Geld und die Kinder gaben, sofern sie welches
verdienten, alles den Eltern ab. XX stellt diesen Sachverhalt dem heute verbreiteten
Taschengeld für Schulkinder gegenüber, um den Kontrast zu verdeutlichen.
Zweitens zeigt dieser Ausschnitt klar auf, wie gerade seitens ärmerer Familien
jede Gelegenheit genutzt wurde, Geld dazuzuverdienen. Innerhalb der Gemeinde
verrichteten Jugendliche, egal ob Buben oder Mädchen, gegen Entgelt Arbeiten bei
den NachbarInnen. Die Grenze zur Schweiz stellte sich hier als lukrative Scheide
dar: Zahlreiche MontafonerInnen halfen regelmäßig in St. Antönien und anderen
Gemeinden im Prättigau und Unterengadin bei der Heuarbeit, weil schon damals
die Löhne in der Schweiz wesentlich höher waren als in Vorarlberg.
Eine andere Form des Zuverdienstes stellt die nächste Erzählung vor, die vom 1910
geborenen TG stammt und in mehrfacher Hinsicht die Schwierigkeiten aufzeigt,
mit denen sich arme Witwen konfrontiert sahen:
TG: Ja, das muss ich dir auch noch erzählen. Die Mama hat dann uns
geschickt, „am Langsa“202 Alpenrosen zu holen für sie. Von „dr Hora“203 her-
unter. Und dann hat die Mama solche kleinen Sträußchen gemacht, Alpenro-
sensträußchen. Und vor dem Haus haben wir den Brunnen gehabt. Und dann
hat sie sie in diesen Brunnen hinein getan, rundherum. Und dann sind auch
ein paar Fremde204 vorbei. Und dann haben sie so ein Sträußchen gekauft.
Und da sind einmal die Gendarmen gekommen und haben gesagt: „Das
darfst du nicht mehr machen“. Und das ist ihr einziges Einkommen gewesen,
im Frühjahr, diese Alpenrosen verkaufen. Ja. Und da hat man sie noch ange-
zeigt. Sind die Gendarmen gekommen und haben gesagt: „Das darfst du nicht
tun“. Alpenrosen verkaufen, wo tausende von Schillingen kostet, in den Alpen
zum Vernichten, dass sie nicht die ganzen Weidegänge überwuchern. Und
trotzdem hat man sie angezeigt, ja.
TG beschreibt mehrfach, dass eine Witwe noch in den 1920er Jahren völlig der
Willkür der anderen Menschen ausgeliefert war, da sie ohne Mann keine Autori-
tät besaß. TGs Familie wurde beispielsweise, wie an anderer Stelle noch im Detail
beschrieben werden wird, mehrmals von NachbarInnen bestohlen. Der obenste-
hende Ausschnitt zeigt, dass auch die Behörden in Hinblick auf den kleinen Zuver-
dienst der Witwe und mehrfachen Mutter kein Auge zudrückten, sondern geset-
zestreu mit einer Anzeige reagierten. Dieser Sachverhalt unterstreicht, neben der
Aussage, dass die Alpenrosensträuße das einzige Einkommen der Mutter gewesen
202 im Frühling.
203 Flurname.
204 TouristInnen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439