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164 WD stellt ihre Erinnerungen einmal mehr heutigen Verhältnissen gegenüber, nicht
ohne diese zu bewerten und eine Art Kulturpessimismus gegenüber der heutigen
Jungend durchklingen zu lassen. Ein Spannungsfeld stellte in vielen Bauernfami-
lien lange Zeit die Schulpflicht dar, nämlich in Hinblick auf die nun fehlenden und
zuhause so notwendigen kindlichen Arbeitskräfte. Zumeist wurden die Kinder
von den Eltern ohne Widerstand in die Schule geschickt, sie wussten allerdings,
dass mit der Heimkehr zumeist ein arbeitsreicher Nachmittag auf sie wartete. Die
1922 geborene QQ erinnert sich:
QQ: Aber dann, wenn man [von der Schule, Anm.] gekommen ist, da hat
man nicht lange herumtrödeln dürfen. Dann heim und sofort sich abziehen
und gegessen. Womöglich musste man noch etwas … wenn man es dann gut
gehabt hat, hat man noch müssen, eine halbe Stunde etwas Holz … helfen
Holz verräumen. Und dann hat man danach wieder, hat es geheißen: „Jetzt
geht halt wieder schnell“. Und dann … da hat es nicht so viel Freizeit gegeben
als wie …
Auch QQ beendet, ebenso wie zuvor WD, ihre Darstellung hier mit einem Hinweis
auf die heutige Situation, in der Kinder mehr Freizeit haben. In der traditionellen
landwirtschaftlichen Gesellschaft gab es sowohl für die Erwachsenen als auch für
die Kinder je nach Jahreszeit nur wenig Freizeit. Da dies in allen Familien gleich
war, fiel niemandem ein, diese Tatsache zu beklagen. Mit dem gesellschaftlichen
Wandel Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden allerdings Unterschiede zu jenen
Familien, in denen die Eltern bzw. Väter einer Arbeit im Rahmen eines Anstel-
lungsverhältnisses nachgingen und die Landwirtschaft sukzessive aufgaben. Der
1929 geborene KP beschreibt in der nachfolgenden Erzählung, wie der Staat die
Bauernfamilien (nicht nur während des NS-Regimes) zu unterstützen versuchte,
indem es möglich war, die Kinder für landwirtschaftliche Arbeiten von der Schule
zu befreien. KP selbst wäre lieber in die Schule gegangen:
KP: Später hat’s dann so eine Verordnung gegeben, dass du als landwirtschaft-
licher Arbeiter schulbefreit worden bist. Und zwar ist das ganz verschieden
gewesen, je nach Landwirtschaftsgröße. Und da hat man sich in der Schule
… also das Ansuchen haben die Eltern eingeleitet und danach ist das bewil-
ligt worden. Und dann hat er in der Schule, also in der Lehre, kann ich mich
genau erinnern, hat er vorgelesen, gelt. Also, der hat 10 Tage frei, der andere
15 Tage und der andere 20 Tage und der andre auch 20 und der nochmal 20
und einer 25. Der KP nie aufgeschienen. Gelt, hab ich gedacht, Gott lobend
Dank! Jetzt hab ich nie frei, jetzt muss ich nie zuhause arbeiten. Dann hat’s
zuletzt geheißen, „KP – 30 Tage!“ [lacht]
I: Oje: [lacht]
KP: Ja ja, bin ich halt zuhause, einen ganzen Monat vor den Ferien, einen
Monat früher hab ich die Schule abgeschlossen.
I: Ja, was ist auf der Landwirtschaft da alles angestanden? Was hat man da
alles machen müssen?
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439