Seite - 179 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 179 -
Text der Seite - 179 -
179
Ort, an dem die moralische Obrigkeit keine Kontrolle mehr über das Verhalten der
Menschen hatte.233 Dass allein die Beobachtung des Besuchs zweier Hirten durch
eine Frau einen außenstehenden Beobachter anstößiges Verhalten vermuten lässt
– das dieser schließlich mit einer Beschimpfung der Frau (!) kommentiert – zeigt
erstens auf, dass sexuelle Kontakte die naheliegendste Interpretation von Besuchen
des Alppersonals waren, und lässt zweitens vermuten, dass zumindest in einigen
Fällen diese Unterstellungen eines Realitätsbezuges nicht entbehrten.
Die allermeisten „Lausbubengeschichten“ teilen ihren Schauplatz: Am beliebtesten
sind bei den ZeitzeugInnen Geschichten über Streiche in der Schule, sodass man
hier durchaus von einer eigenen Gruppe, nämlich jener der „Schulgeschichten“,
sprechen kann. Ein Großteil der Geschichten ähnelt sich dahingehend, dass er in
einem Klassenzimmer oder zumindest im Schulumfeld spielt, sowie darin, dass
einer oder mehrere Schüler als Hauptfiguren eine Lehrperson bloßstellen. Nach-
folgend werden stellvertretend zwei Beispiele für diese klassischen Schulgeschich-
ten vorgestellt, die sich in vielen Aspekten ähneln und gleichsam repräsentativ sind
für eine große Zahl weiterer Erzählungen. CC und RR berichten von den kleinen
und großen Frechheiten, die man sich gegenüber den Lehrpersonen herausge-
nommen hat:
CC ♂, geboren 1933:
CC: Und danach, wo dann die Schule, wo der Krieg fertig gewesen ist, hab ich
eine Lehrerin gehabt, von Brandesl hat sie geheißen. Die hat man natürlich in
der Schule geärgert. Aber als man älter geworden ist, ist das leichter geworden
mit den Lehrern, halt gleich wie mit dem Hitler [unverständlich]. Wenn wir
Turnstunden gehabt haben, die hat es ja auch gehabt. Im Winter ist man dann
Schifahren gegangen und da sind wir in Innerberg unterwegs gewesen. Und
alle miteinander verschwunden. Alle abgehauen. Heim. Und am Morgen in
die Schule gekommen: „Ja, wo wart ihr gestern? Wo wart ihr hin?“ Dann ist es
losgegangen, dann hat sie angefangen meckern. „Ja, dem und dem ist ein Schi
ab und runter und wir sind die Schi suchen gegangen.“ – „Ja, und habt ihr ihn
gefunden?“ – „Ja, sicher haben wir ihn gefunden. Gesucht haben wir ihn und
ist wieder gut gewesen.“ Das haben wir nur gemacht, dass wir keine Aufga-
ben gekriegt haben. [lachen] Oder wir haben ein paar große Buben gehabt.
Einen haben wir gehabt, der war ein Jahr älter. Wenn etwas nicht gepasst hat,
dann hat er wieder eine Maus gebracht. Er hat’s dann im Pult, wo sie draußen
gehabt hat, in die Schublade hinein getan. Und wenn sie an der Schublade
gezogen hat und die Maus gesehen hat, dann ist die Schule fertig gewesen.
Dann haben wir gehen können. Oder man hat sonst etwas Verfluchtes getan,
dann hat sie ihn in den Gang hinaus gestellt. Strafweis hat man draußen
233 Hessenberger, Edith: Sagen und Sagenhaftes vom Maisäß Netza. In: Michael Kasper, Klaus Pfeifer
(Hg.): Netza, Monigg und Sasarscha. Traditionelle Berglandwirtschaft in Gortipohl. (= Montafo-
ner Schriftenreihe 23) Schruns 2011. S. 347–371. Hier S. 348.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439