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nämlichen Autorität wird durch Geschichten über das vorzeitige Verlassen des
Unterrichts, Schadenfreude aufgrund des Erschreckens durch eine tote Maus, das
Urinieren im Klassenzimmer, das Entladen der Taschenlampe des Lehrers oder
kleine Diebstähle aus dem Lehrerpult zum Ausdruck gebracht. Derartig unmora-
lisches Verhalten könnte nicht zentraler und beliebter Inhalt einer Erzählung sein,
wenn hier nicht eine weitere Komponente die Schulgeschichten prägen würde:
Die Erzähler erzielen durch ihre Beschreibungen der Streiche an der Lehrperson
Anerkennung, die ihnen auf Basis von vermeintlich mutigem Handeln, dem Infra-
gestellen einer offenbar schwachen Autorität sowie schließlich dem Sieg über den
Gegner (in den meisten Fällen verlässt die Lehrperson die Schule) zugesprochen
werden könnte. Bei diesem Kräfte-Messen mit der Autorität in Person des Lehrers
oder der Lehrerin handelt es sich um ein typisch männliches Klischee, worauf ja
auch die Tatsache, dass ausschließlich männliche Erzähler diesen Geschichtenty-
pus bedienen, hinweist. Der 1910 geborene TG bestätigt mit einer an seine Schul-
geschichten anschließenden Ausführung, dass es für Buben und Mädchen Ideal-
bilder bzw. Rollen gab, die diese zu erfüllen versuchten – oder die zumindest in
den lebensgeschichtlichen Erzählungen reproduziert werden. TG erzählt, wie sehr
die „schlimmen“ Buben die „braven“ Mädchen während der Schuljahre ablehnten,
da diese folgsam, gelehrig und beliebt beim Lehrer waren – also das genaue Gegen-
teil dessen, wie der Idealtypus des „Lausbuben“ konstruiert wird:
TG: Also der Hass ist lange gewesen bei den Mädchen. „Des sen dr Teifl gsi,
Teifl!“237 Die hätten wir töten können, die Mädchen. Dann sind sie noch bes-
ser … meistens gute Schüler gewesen, die Mädchen besser als die Buben. Und
haben noch mehr gegolten beim Lehrer, weißt du. Die Mädchen immer. Wir
sind nur … was weiß ich, verachtete Leute gewesen, halt minderwertige Leute
bei den Lehrern. „Allig Strof und Schreck“238.
Dass Schulgeschichten auch aus Lehrerperspektive im Kern denselben Mustern
folgen, zeigt eine Erzählung, die insofern eine Ausnahme darstellt, als sie eben von
einem Lehrer erzählt wird. Der unfolgsame Schüler wird hier – wenngleich nicht
als heldenhaft, so doch auf schmunzelnde Weise – mit gewisser Anerkennung dar-
gestellt. Der 1925 geborene NM baut in dieser Erzählung ferner sein heimatkund-
liches Interesse am historischen Umgang mit aufsässigen Schülern ein, indem er
in Form einer Abschweifung seine Funde in der Speckkammer des Pfarrhauses in
seine Erinnerungserzählung einflicht:
NM: Da habe ich einen ganz einen „Luser“239 gehabt, der hat alles gemacht,
was verboten gewesen ist, gell. Da hat schon der Vater gesagt, er hätte auch
alles Mögliche angestellt. Der Pfarrer hat ihn dann hinüber in den Pfarrhof.
Da hat er dann müssen auf einen Stock hinknien, da hätte er immer hin-
237 Die sind der Teufel gewesen, Teufel!
238 Immer Strafen und Schrecken.
239 Schlingel; Lausbuben.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439