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in der Stube nicht, nichts. Und nachher habe ich die Uhr nicht gekannt, in der
vierten Klasse. Dann hat er gesagt: „Geh mal meinen Toni fragen, frag meinen
Toni.“ Jetzt hab ich müssen – kannst dir denken, feuerrot bin ich geworden –
hab ich müssen den Toni fragen, wie spät dass es ist. Und der Toni … Es ist
nur schade, dass die Eltern nicht erleben, was aus den Kindern geworden ist,
gell. Der Toni, der ist das gewesen, der in Nüziders draußen 15 oder 20 Sauen
verrecken lassen hat. Das ist vor drei, vier Jahren im Fernsehen und in der
Zeitung gewesen, hat er einen ganzen Haufen Sauen … bis über den Bauch
sind sie im Kot gestanden. Hab ich gesagt, jetzt, das sollten die, wo immer …
„Geh du den Toni fragen, wie spät …“, habe ich gesagt, da hättest du schon
können fragen, wie spät ist es. Mein Gott!
Der Respekt vor und die Anerkennung der Persönlichkeit des Lehrers sind in CDs
Darstellung noch deutlich spürbar. Die mitunter gefährlichen Kämpfe der Buben
untereinander wurden durch den Lehrer eingedämmt, was CD aus Erwachse-
nen-Perspektive lobend beschreibt. Abschließend fügt er – beinah nebensächlich
– zur Feststellung, dass man Respekt vor dem Lehrer gehabt hätte, noch hinzu,
dass die SchülerInnen bei ihm auch viel gelernt hätten.
Ganz im Gegensatz zu CDs positiver Darstellung des Lehrers erhalten in OLs
Erzählung das Unrecht und die Verletzungen, die sie durch den Lehrer erfuhr, bis
heute einen zentralen Stellenwert in ihren Erinnerungen an die Schulzeit. OLs
Erzählung beschreibt in zwei Beispielen, wie der Lehrer sie einst bloßstellte, und
baut auf diesen Begebenheiten in sich abgeschlossene Geschichten auf, an deren
Ende jeweils der Irrtum des verhassten Lehrers steht. OLs Erzählung vom Lehrer
wird schlussendlich zur retrospektiven Abrechnung mit den Prophezeiungen der
gefürchteten Autorität sowie gleichsam der Korrektur derselben. In beiden Aus-
schnitten wird der Einfluss des Lehrers als nachhaltig auf den weiteren Lebensver-
lauf dargestellt und so der Stellenwert dieser Autoritätsperson unterstrichen.
Abb. 35: Erstkommunion in Schruns (Montafon Archiv)
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439