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BX: Mit 14 Jahren, wo ich aus der Schule gekommen bin, ist das gleich nach
dem Krieg oder Ende Krieg gewesen? Ich hätte halt so gerne Lehrerin werden
wollen. Da hat der Schulleiter Wittwer, wo da viele Jahre Schulleiter gewesen
ist, da in der Gosta draußen. Ludwig Wittwer hat der geheißen. Dann hat
er gesagt: „Sag es daheim. Wir schicken dich in die Lehrerbildungsanstalt.“
Ist doch so ein Lehrermangel gewesen nach dem Krieg. Lang, lang habe ich
es mich gar nicht getraut zu sagen daheim. Und irgendwann habe ich es halt
dann doch einmal gesagt. Und was der Vater gesagt hat: „Jetzt müssen wir
einmal die Bühel mähen, dass wir nicht verhungern.“ Das war die Auskunft.
Und da habe ich mir geschworen, wenn ich einmal Kinder habe, und man
kann es ermöglichen, die dürfen sich ihr Ziel selber setzen. Und das haben sie.
BX bemüht sich im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung mehrmals
aufzuzeigen, wie die fehlenden Möglichkeiten in ihrer eigenen Jugend sie dazu
anspornten, ihren Kindern später einmal alle Chancen zu ermöglichen. Auch im
obigen Ausschnitt wird dies in Form des werthaltigen Endpunkts „Und da habe ich
mir geschworen, […] die dürfen sich ihr Ziel selber setzen“ deutlich. Die Erzählung
zeigt beispielhaft auf, wie Geschichten nach dem Prinzip des „Sinnmachens“ ver-
formt werden.257 Eine zeitlich kurze Episode in BXs Biografie, nämlich die Weige-
rung des Vaters, der Tochter eine Ausbildung zu erlauben, wird mit einem tieferen
Sinn befüllt, quasi einer Lebensaufgabe. Diese heißt für BX: es anders zu machen
und der nachfolgenden Generation eine fundierte Ausbildung zu ermöglichen.
Diese Zusammenhänge werden von der Erzählerin gezielt herausgearbeitet bzw.
konstruiert und gestalten erst die eigentliche Geschichte.
Die Beschreibungen des autoritären Verhaltens des Vaters werden selten mit
offener Kritik kommentiert, im Gegenteil bemühen sich die ErzählerInnen häufig,
die Entscheidungen ihrer Eltern zu erklären oder gar zu rechtfertigen. BX deutet
beispielsweise an, dass ihr Vater mit dem Überleben argumentierte.
Wenngleich besonders Mädchen in Bildungsfragen auch im 20. Jahrhundert
noch (aufgrund der gesellschaftlichen Haltung, aber auch mangelnder Bildungs-
einrichtungen im Mittelschulwesen) ganz klar gegenüber den Buben benachteiligt
waren,258 kann auch der 1927 geborene BD von ähnlichen Erfahrungen mit seinen
Eltern berichten:
BD: Dann habe ich die Hauptschule abgeschlossen, und habe dann traditions-
gemäß, weil das der Vater eigentlich so wollen hat, hab ich dann müssen die
kaufmännische Lehre machen. Und das habe ich dann im elterlichen Betrieb
gemacht. Ja, ich bin eigentlich ein Opfer der Tradition geworden. Ich hätte
viel lieber einen anderen Beruf gemacht, ich hätte mich lieber als Schreiner
oder Tischler oder so etwas handwerklich betätigt. Aber nein, weil halt da
das Geschäft da gewesen ist, und die Eltern mir halt nahe gelegt haben, „wir
257 Koch: Weitererzählforschung. S. 166f.
258 Ebenhoch, Ulrike: Die Frau in Vorarlberg 1914–1933. (= Vorarlberg in Geschichte und Gegen-
wart 3). Dornbirn 1986. S. 63.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439