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192 EV bezeichnet die 1930er Jahre ganz allgemein als „schrecklich“264 und kommen-
tiert ihre Erinnerungen selbst mit Bilanzen, die erst die Retrospektive ermöglicht:
„Die 30er Jahre, da haben sie alle noch nichts gewusst davon.“ Die Erzählerin deutet
große bevorstehende Ereignisse an. Schon im übernächsten Satz wird schließlich
die Arbeitslosigkeit mit einer Zuwendung zur Politik Hitlers gekoppelt. Bei dieser
tendenziell rechtfertigenden Darstellung handelt es sich um eine Verknüpfung von
historischen Tatsachen, die in exakt dieser Form und auch ähnlicher Formulierung
bei gut der Hälfte der ErzählerInnen zu finden ist. Ein weiteres Beispiel, in dem
sich der 1930 geborene AZ und seine Frau CZ bemühen, die NSDAP-Zugehörig-
keit des Vaters zu relativieren und zu erklären, zeigt auf, wie schnell die Arbeitslo-
sigkeit als Erklärungsmuster zum Einsatz kommt:
CZ: Nein, nein, ein „Hitler“265, der Papa, ein „Hitler“ …
AZ: Ja, ja …
CZ: Man kann … er ist jetzt vielleicht, ich weiß auch nicht. Getan hat er gar
nichts.
AZ: Nein, nein.
CZ: Aber halt, ich weiß nicht, halt so ein bisschen eingestellt, dass es einem
besser gegangen ist wahrscheinlich, wo der gekommen ist.
AZ: Ja, ja, es ist halt eben in den 30er Jahren wirklich schlecht gewesen, halt
keine Arbeit, nichts herum gewesen.
Die nachfolgende Generation bemüht sich sichtlich um das Image ihres Vorfahren,
indem sie betont, dass der Vater „nichts getan“ hätte und vor allem deshalb „so
ein bisschen eingestellt“ war, weil man hoffte, dass es einem dann angesichts der
grassierenden Arbeitslosigkeit besser gehen würde. Während in den Erzählungen
von der traditionellen Berglandwirtschaft und der arbeitsamen Kindheit vielfach
betont wird, dass man sich mit der heimatlichen Landwirtschaft selbstversorgte,
wird in Bezug auf die politischen Ereignisse in den 1930er Jahren die schwierige
Arbeitsmarktsituation in den Vordergrund gestellt. Der Widerspruch dieser Dar-
stellungen ist nur vordergründig, da Selbstversorgerwirtschaft und Arbeitslosig-
keit einander mitunter bedingen, dennoch fällt die jeweilige Schwerpunktsetzung
in Bezug auf den Erzählstoff als erzählerische Strategie auf.
Neben Armut und Arbeitslosigkeit erinnern sich einige ZeitzeugInnen – weni-
ger in Bezug auf die 1930er Jahre als vielmehr zum Thema „Zwischenkriegsjahre“
– auch an die Inflation, die vor allem die 1920er Jahre prägte. Der 1910 geborene
TG rekonstruiert die Bedeutung der Inflation für seine Lebensgeschichte in ein-
drücklichen Bildern und spricht in diesem Zusammenhang auch die Armut an,
unter der seine Familie zu leiden hatte:
264 Vgl. Paar, Heinrich: In den Dreißigerjahren. In: Bauer, Kurt (Hg.): Bauernleben. Vom alten Leben
auf dem Land. Wien 20073. S. 172–175.
265 hier: ein Anhänger von Hitler.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439