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TG: Ja bei der Inflation. Wir sind dann hin, um Ziegen zu melken, am Zieger-
berg. Jeden Abend und jeden Morgen. Und die Stollenarbeiter, die haben ein
extra Klo gehabt, vor dem Loch heraußen. Und da unten, da haben sie den
Hintern mit Geld geputzt. Und wir haben dann lange Haselstecken abgeschla-
gen und spitzig gemacht, und solche Fünfhunderter aus dem „Schießhus“266
herauf gefischt, wo sie den Hintern geputzt haben damit. Ein bisschen gewa-
schen. Und dann haben wir wieder einen Fünfhunderter gehabt, wir Buben.
Ja. Den Hintern geputzt. Das ist in der Inflationszeit gewesen. Aber soviel
verdient, dass sie mit Geld den Hintern geputzt haben. Mmmh [bejahend].
Und wir haben es herauf gefischt. [8 sec. Pause]
I: Hei noch einmal. Eine verrückte Zeit erlebt.
TG: Mmmh [bejahend]. Ja. Aber es ist trotzdem schön gewesen. Ja schön
gewesen. Ja und die Eltern, wo diese Haufen Kinder gehabt haben, die haben
nicht schöne Zeiten gehabt. Wo ich größer gewesen bin, das habe ich oft gese-
hen, dass die Mutter den Löffel abgelegt hat und nicht genug gegessen, dass
wir „gnüagr“267 hatten. Oft. Weil ich einmal größer gewesen bin, habe ich das
oft gesehen bei der Mutter. Sie hätte gerne auch mehr gehabt, aber sie hat es
den Kindern gelassen.
Wie im Kapitel zur Idyllisierung der Kindheit bereits aufgezeigt wurde, ist es gera-
dezu typisch für die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Befragten, dass sie von
extremen Umständen wie Inflation, Armut und Hunger erzählen und diese Erin-
nerungen dennoch etwa mit „Aber es ist trotzdem schön gewesen“ kommentieren.
Einen besonders häufig erinnerten Umstand während der 1930er Jahre stellt die
„Tausend-Mark-Sperre“ dar. Im Rahmen dieser Wirtschaftssanktion, die das
Deutsche Reich 1933 als Reaktion auf das Verbot der NSDAP über Österreich ver-
hängte, wurden deutsche ReichsbürgerInnen fortan gezwungen, vor einer Reise
nach Österreich eine Gebühr von 1000 Reichsmark zu entrichten.268 In den Erin-
nerungen der ZeitzeugInnen sind die Tausend-Mark-Sperre und ihre Auswirkun-
gen auf das Montafon – nämlich ein starker Rückgang der Nächtigungszahlen, ein
Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie die Verschärfung der ohnehin prekären wirt-
schaftlichen Lage – besonders präsent. Der nachfolgende Ausschnitt, in dem der
1927 geborene JJ die Ereignisse dieser Zeit und ihre Folgen für die Menschen im
Tal beschreibt, umfasst einen Großteil der Aspekte, die auch von anderen Zeit-
zeugInnen angesprochen werden, und soll hier stellvertretend für eine große Zahl
anderer Erzählungen angeführt werden:
266 Scheißhaus; Klo.
267 ein bisschen mehr.
268 Kasper, Michael: Edelweiß und Hakenkreuz? Alpinismus und Nationalsozialismus im ländlichen
Raum. In: Hessenberger Edith, Andreas Rudigier, Peter Strasser, Bruno Winkler (Hg.): Mensch
& Berg im Montafon. Eine faszinierende Welt zwischen Lust und Last. (= Sonderband zur Mon-
tafoner Schriftenreihe 7) Schruns 2009. S. 117–146. Hier S. 127.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439