Seite - 198 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 198 -
Text der Seite - 198 -
198 gegangen, wo sie gewusst haben: Das ist kein Nazi. Und die haben dann müs-
sen durch die Ortschaft herausmarschieren.
I: Ach so, zum Zeigen, die sind nicht dafür, schaut euch die an …
CY: Zum Zeigen, jawohl. Und dann natürlich links und rechts Zuschauer,
speziell auch Frauen …
I: Das war am Anschlusstag?
CY: Das war am Anschlusstag, wo der Anschluss war, ist das passiert. Da
haben sie die aus jedem Haus geholt und da sind halt ein paar Nazis gekom-
men: „So, jetzt kommt ihr mit uns.“ Und dann haben sie sich müssen in dieser
Schlange da einreihen und so haben sie müssen durch das Dorf herausmar-
schieren. Unter der Aufsicht von den Nazis. So hat sich das entwickelt. Weil,
die Nazis, die haben einen Stall gehabt, da. Weil, schon bevor der Anschluss
gewesen ist, haben die Uniformen und Schreiben hergeschmuggelt. Ich habe
ja das von meinem Chef, vom OR erfahren. Diese Kleidung und die Schriften,
diese Reklame, die ist vom Kleinen Walsertal über den Berg gekommen nach
Warth und da oben hat zufälligerweise mein Chef ein Tunnel gebaut und
ganze Wägen voll mit dieser Kleidung, Nazikleidung und Schriften sind mit
seinem Wagen hergefahren worden durch den Stollen, den er gemacht hat.
Das hat er mir gesagt. Und er hat nichts sagen dürfen, weil sonst wäre er
gleich unter dem Hammer gewesen. Er hat ja nicht einrücken müssen, weil
ihn haben sie baulicherseits gebraucht, während dem Krieg. Aber das war
schon vor dem Krieg, in den 38er, 39er Jahren hat sich das entwickelt. Und da
sind die Uniformen für Vorarlberg, die Naziuniformen … Können Sie sich da
schon erinnern, wie die ausgesehen haben?
I: Von Photos, ja.
CY: Ja, so sind die da her transportiert worden. Und da irgendwie wieder mit
einem Lastwagen, so sind sie in ihre geheimen Sitzungsställe, in den Ställen
drinnen haben sie das gemacht. Ich habe das alles erfahren von einem Erznazi
habe ich das erfahren, wo sie zusammen gekommen sind und miteinander
gesprochen haben. Wo die Organisation für den Adolf gewesen ist.
CY stellt als auch während des Krieges und in der Nachkriegszeit politisch interes-
sierter und engagierter Zeitzeuge einen Ausnahmefall dar, insofern als er politische
Zusammenhänge reflektiert, analysiert und diese erzählerisch zu inszenieren weiß.
Die individuellen Interessen der ZeitzeugInnen prägen ihre Erzählungen selbst-
verständlich in Hinblick auf den inhaltlichen Fokus. Für den Erzählstoff zum The-
menbereich Nationalsozialismus gilt generell, dass sich die meisten ErzählerInnen
scheinbar weder für die politischen Vorgänge, noch für deren Hintergründe inte-
ressierten. Auch aufgrund der wirtschaftlichen Ausnahmesituation in den 1930er
Jahren und schließlich während des Zweiten Weltkrieges entsteht der Eindruck,
dass die meisten Gewährsleute vor allem mit sich selbst beschäftigt waren und sich
kaum der Politik widmen wollten. CYs Erzählung über die Aufstellung und den
Umgang der Montafoner Nationalsozialisten mit ihren politischen Gegnern ist
insofern auch in historischer Hinsicht von Bedeutung. CYs Verweis auf die wäh-
rend des NSDAP-Verbotes aktiven Nazis bestätigt die intensive Tätigkeit dieser
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439