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politischen Gruppen, die es in fast jedem Vorarlberger Dorf gegeben hat, und die
trotz des Verbots regen Zulauf erfuhren.275
Andere Erinnerungserzählungen über den „Anschluss“ beziehen sich weniger auf
den konkreten Tag als vielmehr auf einen größeren Zeitraum, innerhalb dessen die
ersten politischen Maßnahmen griffen. Zahlreiche ZeitzeugInnen berichten von
den Veränderungen, die für sie damals vor allem im schulischen Umfeld spür-
bar waren. Vor dem plötzlichen Einsetzen nationalsozialistischer Propaganda im
Unterricht wurde besonders der LehrerInnenwechsel als massiver Eingriff in das
bisherige Leben empfunden. Der 1927 geborene JJ trauerte seinem Lehrer nicht
nach, erzählt aber sehr detailreich, wie er als 11-Jähriger diese für ihn damals auf-
regende Zeit erlebte:
JJ: Ja und da kommen wir hinauf, es ist am 13. März gewesen, oder am eine
Woche danach. Auf jeden Fall sitzen sie auf dem Zaun da. Meine Mitschüler
alle. „Was ist mit euch?“ „Ha, hast du eine Ahnung. Den Heinzle, den haben
sie weg. Den haben wir nicht mehr. Der Lehrer ist weg.“ […] Da habe ich
gesagt: „Das ist mir egal, den habe ich eh nicht gemocht.“ Und so ist es gegan-
gen. „Ja, wieso?“ „Ja, die sind nicht mehr tragbar, hat es geheißen.“ „Ja, was
ist mit uns jetzt?“ „Ja, da werden wir dann schon andere Lehrer kriegen.“ So
haben wir das alles in der Schule dann mitbekommen. Dass die Lehrer, die
irgendwie nicht hinein gepasst haben, gesinnungsmäßig, die hat man einfach
weg getan. Wir haben das nicht so gewusst. […] Aber das hat halt damals
einen Wechsel gegeben einen totalen. Und das ist so total organisiert gewe-
sen, solche Umzüge gegeben durch ganz Schruns. Jeder Bub hat ein Fähnchen
bekommen. Und dann ist man eigentlich nur durch gerauscht, durch ganz
Schruns, die Bahnhofstraße hinauf, hinunter, die Gasse hinunter, hinaus, wie-
der Außerlitz. Und immer nur: „Sieg heil, Sieg heil, Sieg heil, Sieg heil, Sieg
heil“, immer geschrien. Und das ist mir auch immer furchtbar vorgekommen.
Dann ist die Frau vom Direktor Heinzle gewesen, und vorne hat man die
Fahne gezeigt. Und die hat natürlich nicht die Hand hinaus getan. Und dann
auch ein Mann, ein bekannter Mann, ist hinaus gegangen und hat ihr „a Wat-
scha“276 gegeben, dass sie umgefallen ist. Das ist mir auch als Bub furchtbar
vorgekommen, dass man so etwas tut. Ich weiß, nur aus diesem Grund. Dann
hat es … am Abend hat es Fackelumzüge gegeben. Aber das ist schon alles
organisiert gewesen. Wo sie überall diese Fackeln herbekommen haben, weiß
ich nicht. Da sind dann Hunderte durchmarschiert mit diesen Fackeln. Hat
man überall diese Fackeln, und marschiert, und dann am Schluss hat man sie
dann bei einem großen Topf hinein geworfen. Dann ist auf dem Kirchenplatz
eine Ansprache gewesen, halt wieder für Führer, Volk und Vaterland. Und
dass da Vereine mit dem Deutschen Reich …, oder der Führer hat die Heimat
eingeholt. Und halt diese Sprüche hast du die ganze Zeit gehört. Die sind dir
275 Walser, Harald: Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg 1933–1938. Wien 1983. S. 135.
276 eine Ohrfeige.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439