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sie da einrücken müssen nach … [Telefon läutet] Mein Gott, mit der Bahn.
Für Gott, Kaiser und Vaterland! Aber das zweite Mal bei Hitler war Gott nicht
mehr da. Da haben sie nur für Hitler gekämpft. Für Vaterland natürlich auch,
aber das ist ja nicht unser Vaterland gewesen, Deutschland, oder. Und wir
haben trotzdem kämpfen müssen, unsere Soldaten.
CC ♂, geboren 1933:
CC: Ja, sie haben drinnen auch noch die Kirche weg haben wollen, da ist der
Hitler auch noch gewesen. Und das ist dann nicht gegangen. Der lebt auch
eine Weile nicht mehr, von Außerwald war der und ist Bürgermeister gewe-
sen. Der wollt das weg, aber da ist er nicht mehr dazugekommen [lacht]. An
den Herrgott hat man da nicht geglaubt, weil da ist der Hitler der Herrgott
gewesen. Ja, so ist das gelaufen.
BX ♀, geboren 1930:
BX: Das ist das Ärgste gewesen im Krieg. Und was ich halt noch so ganz
furchtbar weiß, ist beim Hitler … natürlich in der Schule durfte man nicht
mehr beten. Das Kruzifix aus der Schulklasse hinaus gekommen. Man hat
mit „Heil Hitler“ gegrüßt. […] Nur was dann ganz furchtbar … ich meine,
dass jetzt wir mit „Heil Hitler“ gegrüßt haben, wir sind ja Kinder gewesen,
das haben wir … Und dass das Kruzifix hinaus gekommen ist. In die Messe
durften wir trotzdem noch. Das hat uns nicht mehr berührt.
EV stellt im ersten Ausschnitt ihre Erinnerungen an die beiden Weltkriege gegen-
über und kommt zum Schluss, dass im Zweiten Weltkrieg nicht mehr für Gott und
Vaterland, sondern für Hitler und Vaterland gekämpft worden war. CC beschreibt
die Intentionen eines Bürgermeisters, eine Kirche zu schließen, und resümiert, dass
während dieser Jahre „Hitler der Herrgott gewesen“ ist. BX schließlich beschreibt,
wie das Kruzifix in den Klassenzimmern abgenommen wurde und „Heil Hitler“
anstelle des traditionellen „Grüß Gott“s trat. Das Bild, das diese Erzählungen und
der ihnen zugrunde liegende Topos bedienen, ist auch aus Filmen oder der Litera-
tur bekannt, wenn beispielsweise im Rahmen eines Machtwechsels das Bildnis des
neuen Herren an Stelle des alten Herren gehängt wird. Die ErzählerInnen greifen
auf dieses Bild zurück, um ihre Erzählung stichhaltig und besser begreiflich zu
machen.
Die Vorgänge im Zuge des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich am
12. März 1938 werden im Rahmen der lebensgeschichtlichen Erzählungen aber
nicht immer neutral und distanziert beschrieben. In zahlreichen Fällen beziehen
die ZeitzeugInnen auch Position zu diesem politisch-historischen Ereignis und
bemühen sich, die Bedeutung für sich persönlich, ihre Familie und ihr weiteres
Leben herauszustreichen. Manchmal erfolgt die persönliche Positionierung auch
im Anschluss an eine möglichst nüchterne Beschreibung der Ereignisse.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439