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202 Ganz allgemein muss festgestellt werden, dass die ZeitzeugInnen den Neuerungen
nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich in ihren Erzählungen tendenziell
positiv gegenüberstehen. Diese Haltung bezieht sich vor allem auf die kurzfristigen
wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen, die in den Jahren 1938 und 1939
für die reichsdeutschen BürgerInnen eingeführt wurden. Dazu zählen der starke
Rückgang der Arbeitslosigkeit (u.a. aufgrund der gut fundierten Vorarlberger Pri-
vatwirtschaft) oder die Einführung einer „reichsdeutschen“ Sozialversicherungs-
gesetzgebung sowie einer (nicht allen Familien zur Verfügung gestellten) „Kinder-
beihilfe“.280
Nur ein kleiner Teil der Befragten übt deutlich Kritik am nationalsozialisti-
schen Regime und dem damaligen Verhalten der Bevölkerung. Zumeist bemühen
sich die ZeitzeugInnen, in ihrer erzählerischen Logik an die Beschreibungen der
„schrecklichen“ 1930er Jahre anschließend, in denen Hitler Österreich „reif für
den Anschluss“ machte, die Begeisterung einerseits mit der wirtschaftlich schlech-
ten Situation zu rechtfertigen. Andererseits werden immer wieder die individu-
ellen Vorteile betont, die die zumeist von der Landwirtschaft lebenden Familien
zumindest in den ersten eineinhalb Jahren nach dem „Anschluss“ erfuhren. Der
Hinweis darauf, dass die Bevölkerung schließlich einen hohen Preis für den wirt-
schaftlichen Aufschwung nach dem „Anschluss“ zahlen musste, bleibt nur selten
aus.
Anschließend soll aufgezeigt werden, welche Veränderungen den ZeitzeugIn-
nen als besonders positiv in Erinnerung geblieben sind bzw. wie diese mit dem
Nationalsozialismus und dem Krieg in Verbindung – oder eben nicht in Verbin-
dung gebracht werden. Die zusammenfassende Erzählung der 1904 geborenen EV
gewährt einen Überblick über die Ereignisse aus ihrer Perspektive:
EV: Der [Mann, Anm.] hat ein paar Jahre nur so Nebenarbeiten machen kön-
nen. Und wir haben eine Stube voller Kinder gehabt. Das war schlimm. Die
30er Jahre. Und dann hat er natürlich im letzten, im Jahr vor dem Krieg, 38,
ist ja der Hitler einmarschiert und da ist es dann einen Moment besser gewor-
den, dann natürlich Gutscheine ausgegeben und Mutterhilfe und alles Mögli-
che. Und wenn der Krieg nicht gekommen wäre, wär das ja eine goldene Zeit
gewesen. Aber das hat sich dann gewaltig geändert. Zuerst sind einmal, beim
Grenzdurchbruch wo er nach Österreich einmarschiert ist, da sind einmal alle
Deutschen gekommen – die haben auch nicht mehr gehabt. Dann sind sie
eingerückt und haben alles zusammengekauft, was noch da gewesen ist. Viel
ist nicht mehr gewesen. Kein, also, an allem hat’s gefehlt. Und dann sind wir
natürlich noch einmal ärmer geworden. Und dann ist der Krieg gekommen.
Ist der Hitler gekommen, will ich sagen. Dann hat der angefangen Arbeit zu
schaffen und momentan … Viele sind ja furchtbar begeistert gewesen, aber
280 Schönherr, Margit: Die Wirtschaft. In: Vorarlberger Landesmuseum (Hg.): Vorarlberg 1938. Aus-
stellung im Rahmen der Veranstaltungen des Gedenkjahrs 1988. Bregenz 1988. S. 91–100. Hier
S. 92–94.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439