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204 Wie viele andere ZeitzeugInnen versucht GH die wirtschaftlichen Vorteile, die die
eigene Familie aus den politischen Veränderungen zog, von anderen Aspekten wie
etwa dem Krieg oder dem Völkermord zu trennen. Die einstmalige und teils bis
heute freundliche Gesinnung („Ist uns dann auch ein bisschen geblieben“) gegen-
über dem Nationalsozialismus wird gerechtfertigt, indem man einzelne konkrete
Verbesserungen und Unterstützungen – wie sie zunächst ja vor allem die Bauern
erfuhren – ins Zentrum rückt und alles andere ausklammert. Darüber hinaus
interpretiert GH in seiner Darstellung den Krieg als Preis, den man schließlich
zahlte: „Und man hat draufgezahlt genug.“ Damit deutet der Erzähler an, dass die
verschiedenen Vorteile, die sich zunächst für die Mehrheitsbevölkerung im Deut-
schen Reich auf Kosten anderer ergaben, mit den Opfern und Einbußen im Krieg
quasi wieder beglichen worden waren. In der nachträglichen Interpretation wird
das eigene Leid mit dem zugefügten Leid aufgerechnet und die Rechnung abge-
schlossen. Ursachen und Wirkungen im Nationalsozialismus, aber auch im Zwei-
ten Weltkrieg, werden aus ihrer logischen Verkettung gelöst.281 Die Relativierung
von Verfolgung, Kriegsverbrechen und Völkermord mit dem Hinweis auf den
hohen deutschen Blutzoll im Zweiten Weltkrieg ist eine erzählerische Strategie
der Rechtfertigung – die allerdings nicht nur in lebensgeschichtlichen Erzählun-
gen immer wieder auftaucht, sondern auch als sogenannter „Stammtisch-Palaver“
bzw. „rechtsradikale Lüge“ untersucht wurde.282 Erst unter dem Vorzeichen der
Rechtfertigung ist es den ZeitzeugInnen möglich, darüber, was man als Vorteil am
Nationalsozialismus empfand, offen zu sprechen. Die 1917 geborene MN bedient
sich im nachfolgenden Ausschnitt derselben Strategien:
MN: Der Umsturz, die Jahre 38, das ist schon schlimm gewesen für uns Öster-
reicher, zum Teil. Die einen haben den Führer ja begrüßt, und die anderen
halt nicht. Es ist wie heute auch in der Politik, gell. Den einen ist es recht, den
anderen nicht. Und der Führer hat natürlich auch vielen geholfen, das muss
man auch sagen. Da sind viele Bauern in den Schulden gewesen, und die hat
der abgelöst. Da haben sie Kinderbeihilfe bekommen. Und das hat halt diesen
Familien gut getan. Und dann, der Krieg ist halt wieder weniger gut gewesen.
Haben sie halt einrücken müssen, und viele halt eben nicht mehr gekommen.
An diesem Beispiel wird besonders deutlich, wie die Ereignisse unter nationalso-
zialistischer Herrschaft mitunter verharmlost werden. Zahlreiche weitere Aspekte
und insbesondere die Konsequenzen des Nationalsozialismus für verfolgte Bevöl-
kerungsgruppen werden hier ausgeblendet oder relativiert. Angesichts der Tatsa-
chen, dass einerseits lebensgeschichtliche Erzählungen stets retrospektiv rekon-
struiert werden und andererseits die Dimensionen der NS-Verbrechen heute
hinlänglich bekannt sind, überrascht es, dass dieses Wissen kaum in die Interviews
einfließt. Die einzige diesbezügliche Positionierung der ErzählerInnen ist in Form
281 Löffler: Zurechtgerückt. S. 141.
282 Tiedemann, Markus: „In Auschwitz wurde niemand vergast.“ 60 rechtsradikale Lügen und wie
man sie widerlegt. München 2000. S. 47, 62.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439