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AC zeigt sich besonders schockiert darüber, wie sich Einzelne im Dorf zu gebärden
begannen, als sie mit dem „Anschluss“ offenbar nicht nur ihre größten Hoffnun-
gen bald erfüllt sahen, sondern vom ersten Tag an Andersdenkende zu bedrohen
begannen. Mit dem Kommentar „Aber man tät nicht glauben, zu was ein Mensch
kommen kann“ verleiht AC seiner Enttäuschung über das Verhalten einiger Nach-
barn Ausdruck und deutet damit bereits die moralischen Defizite, die der Natio-
nalsozialismus geradezu förderte, an. Die 1904 geborene EV stellt ihre Erzählung
über den „Anschluss“ unter das Licht der späteren Verbrechen und positioniert
sich insofern klar, als sie nichts verharmlost und auch Fehler eingesteht:
I: Wie war da so die Stimmung am Anfang, wie er einmarschiert ist?
EV: Ja, mein Gott, zuerst hat alles gejubelt. Also der Großteil hat gejubelt. Das
muss ich zu meiner Schande sagen. Wir haben da Holzarbeiter gehabt, da auf
der Wiese drinnen, als der Zusammenbruch war, wo Österreich eingebrochen
ist. Ich bin in der Küche gewesen, auf einmal hab ich einen furchtbaren Lärm
gehört. Und da sind ja die Holzarbeiter, ein Grüppchen, sind ganz verrückt
geworden vor lauter Freude, dass jetzt der Hitler gekommen ist. „Jetzt gibt’s
Arbeit, jetzt gibt’s Brot.“ Ja, es ist ja wirklich gewesen, aber … Und dann sind
auch … Das erste war, dass er die Zuchthäusler herausgelassen hat. Mör-
der und also die „mindersten“285 Kreaturen hat er heraus gelassen aus den
Zuchthäusern. Als Soldaten und als SS- und als SA-Männer. Das war das
schlimmste. Die hat er unter der Bevölkerung … und denen hat er Macht
und Amt gegeben. Das war ja das Allerschlimmste. Und die haben sich unter
die normalen, rechtsschaffenden Menschen gemischt. Da kann man sich ja
denken … Und das hat er dann auch gebraucht für die Gräueltaten, die er
gemacht hat. Solche. Und der Krieg überhaupt. Ich war in Bludenz am ersten
September 39, wie er den Krieg ausgerufen hat. Da ist es mir ganz kalt über
den Rücken gelaufen. „Ich übernehme die Verantwortung!“, hat er gebrüllt.
Für alles, für unser Vaterland. Hoho, ist nicht sein Vaterland, hab ich gedacht.
Und er hat’s übernommen für die 100.000 Menschen, die er umgebracht hat.
Er hat das nicht aus Nächstenliebe getan, er hat’s nur aus Machtgier. Ja, es
sind heute noch Menschen, die zujubeln. Und schon wieder bei den Jungen,
aber die wissen halt nicht.
Eine derart klare kritische und ablehnende Haltung wird in den Erzählungen sel-
ten eingenommen. Zwar spricht EV in Bezug auf die Sozialleistungen, die die Nati-
onalsozialistInnen zunächst einführten, an anderer Stelle von „goldenen Zeiten“,
sowie sie auch im obigen Ausschnitt andeutet, dass es plötzlich Arbeit und Brot
gab. Sie betrachtet hier allerdings die Ereignisse nicht getrennt voneinander, son-
dern gesteht „zu ihrer Schande“, dass man zunächst jubelte, während die ersten
Verbrechen bereits geplant wurden.
Wie Hitler häufig als Kristallisationsgestalt des Bösen dargestellt wird, so
erscheint in vielen Erzählungen „das Böse“ während der Jahre des Nationalso-
285 minderwertigsten.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439