Seite - 212 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 212 -
Text der Seite - 212 -
212 IJ: Man hat eigentlich, das heißt, ich kann mich nur erinnern, in der Schule
hat man von der Kirche aus, die Juden haben Jesus Christus umgebracht und
heute sind sie ein unbeliebtes Volk in der ganzen Welt, sozusagen. Sie sind
auch heimatlos geworden, sozusagen, es gibt kein … weil sie überall in der
Welt zerstreut werden. Das kann ich mich erinnern. Aber das weiß ich dann,
unter dem Hitler hat man die Juden quasi als böse Leute hingestellt. Man
hat hier in Vandans, gab’s soweit keine Juden. Man hat höchstens jemand
so beschimpft, wenn man weiß, es war ein getaufter Jude [lacht]. Das hat es
gegeben.
Der 1934 geborene CD erwähnt, dass es „zum Glück auch Lehrer [gab], die sich
nicht auf den Nationalsozialismus eingelassen haben“, und relativiert damit das im
Rahmen der letzten drei Ausschnitte sehr drastisch gezeichnete Bild von der nati-
onalsozialistischen Schulerziehung. Nicht alle LehrerInnen waren während die-
ser Jahre überzeugte Nazis, viele bemühten sich, unter der neuen Führung nicht
aufzufallen, und fuhren bestmöglich mit ihrem altbewährten Unterricht fort. Der
Grund für die besonders drastischen Darstellungen in den Erinnerungserzählun-
gen deutet – abgesehen von der entsprechenden historischen Grundlage – mitun-
ter ein Bemühen um Rechtfertigung des eigenen Handelns an. Die Tatsache, dass
das nationalsozialistische Regime gerade die Kinder derart ideologisch indoktri-
nierte und benutzte, hilft den ZeitzeugInnen heute, sich vom Nationalsozialismus
durch eine Identifikation mit der Opferrolle zu distanzieren.
Einen dem Erzählstoff Schule verwandten Themenbereich stellen Erzählungen
zum Schauplatz der höherbildenden oder berufsbildenden Institutionen dar. Ins-
besondere die ehemalige Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch taucht immer wieder
in Erzählungen auf. Während des Nationalsozialismus handelte es sich bei dieser
Institution um einen Hort nationalsozialistischer Ideologien, die hier einerseits an
die zukünftigen LehrerInnen weitergegeben wurden und andererseits auch den
Schulbetrieb und die Ausbildungssituation massiv prägten. Der 1927 geborene JJ
wurde gegen Ende des Krieges in Feldkirch zum Lehrer ausgebildet und beschreibt
– hier vor allem die körperlichen – Anforderungen an die jungen AnwärterInnen
wie folgt:
JJ: Ich möchte noch dazu sagen, wie das damals zugegangen ist. Lehrer wer-
den, als Lehrer … Damals hat man Leute gebraucht, die dann auch irgend-
wie gesinnungsmäßig dazu gepasst haben. Und da hat es nicht nur eine Auf-
nahmeprüfung gegeben, sondern […] das ist ein Ausleselager gewesen. Da
sind wir über 30 Buben gewesen, ich glaube 35 oder 36, 14 Tage im Auslese-
lager. Und das ist so brutal zugegangen, das kann man sich nicht vorstellen.
Erstens schon hat es da geheißen, als Junger muss man sein: zäh wie Leder,
hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde. Und das hat man am
Morgen früh schon angefangen, mit Frühsport. Und auf Sport hat man sehr
viel gegeben, und du hast nicht feig sein dürfen. Hoi, da [unverständlich].
Du hast nicht feig sein dürfen, hast das alles mitmachen müssen. Wir sind ja
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439