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216 altrigen im Dorf erfuhren. Der 1934 geborene CD entstammte einer katholischen
Familie und wurde in seiner Rolle als Ministrant von den HJ-Buben als Gegner
empfunden:
CD: Ja, in der Jugendzeit, während dem Krieg hat es dann eben auch die
Hitlerjugend gegeben. Und die Hitlerjugend, die durfte dann schon an die Ill
herunter, um Scheiben zu schießen, mussten sie, diese Buben. Aber ich nicht.
Ich bin Ministrant gewesen. Und während dem Krieg wollte ja niemand mit
der Kirche etwas zu tun haben, weil der Nationalsozialismus ist nicht für die
katholische Kirche eingestanden. Und da hat man die Leute eher verpönt,
wo mit der Kirche etwas zu tun gehabt haben. Und ich bin Ministrant gewe-
sen. Und ich durfte nicht schießen. […] Und dann eben, halt von vielen sol-
chen Buben, wo bei der Hitlerjugend gewesen sind, bist du schon ein starker
Außenseiter gewesen. Da hat es immer geheißen: „Ja den brauchen wir nicht.“
– „Da der Kirchenspringer da.“ Und so und so. Und interessanterweise, das
hat sich dann bei denen oft noch länger hinaus gezogen. Ich bin dann zur
Feuerwehr gekommen. Und dann sind dann die aus dieser Hitlerjugend, sind
dann das HJ-Buben geworden, und danach sind dann das schon halberwach-
sene Männer gewesen, und haben dann immer noch gemeint, sie hätten die
Macht, wie unter dem Hitler. Dann ist es dann da schon fast bei der Feuer-
wehr zuerst ein bisschen wie eine Rangordnung gewesen. Und ja, ja, da hat es
dann halt einige, das sind die sogenannten Läufer gewesen, und die anderen
die Tonangeber. Die haben gesagt, was man zu machen hat. Aber das ist zum
Glück alles vorbei.
Schon in der Gegenüberstellung der letzten beiden Ausschnitte wird deutlich, wie
die Hitlerjugend-Organisationen durch „Zusammenhalt“ auf der einen Seite Aus-
grenzung auf der anderen Seite produzierten. CD erfuhr seitens der Gleichaltrigen
Ablehnung aufgrund seines religiösen Bekenntnisses und seines Engagements in
der Kirche, das noch wenige Jahre zuvor selbstverständlich und zu weiten Tei-
len hoch angesehen war. Die Prägung der jungen Menschen in der Hitlerjugend
beschreibt CD indessen dahingehend als nachhaltig, als er sich erinnert, dass die
Hierarchie der Hitlerjugend zwischen den jungen Männern weit nach 1945 auch
in anderen Vereinen aufrecht erhalten blieb. Andere Untersuchungen, beispiels-
weise über den Alpenverein oder die Bergrettung im Montafon, bestätigen diesen
Sachverhalt.298
Auch andere ZeitzeugInnen betonen, dass soziale Ausgrenzung die Folge einer
Nicht-Mitgliedschaft bei der Hitlerjugend gewesen wäre. In den allermeisten Fäl-
len beteuern ErzählerInnen, die selbst Mitglied bei einer Organisation der Hitler-
298 Hessenberger, Edith: Berg(Kult)Touren. Aspekte des Bergsteigens und der (Er-)Lebenswelten
am Berg. In: Hessenberger, Edith, Andreas Rudigier, Peter Strasser und Bruno Winkler (Hg.):
Mensch & Berg im Montafon. Eine faszinierende Welt zwischen Lust und Last. (= Sonderband
zur Montafoner Schriftenreihe 8) Schruns 2009. S. 147–234. Hier S. 199.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439