Seite - 222 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 222 -
Text der Seite - 222 -
222 zählen.304 Ein Paradebeispiel dafür, wie Erinnerungen und Erzählungen durch die
Erfahrungen während der Jahre zwischen dem Ereignis und der Erzählsituation
überprägt werden und wie sehr die Darstellung des eigenen Lebens retrospektiv
strukturiert wird, stellt der Erzählstoff des „(Un-)Wissens um die NS-Verbrechen“
dar. Dieses Thema erscheint den ZeitzeugInnen aus verschiedenen Gründen als
heikel: Zuallererst spüren sie in der (manchmal im Interview gar nicht gestellten)
Frage, ob sie als ZeitzeugInnen während der NS-Zeit beispielsweise von der Ermor-
dung von JüdInnen und anderen Menschen in Konzentrationslagern gewusst hät-
ten, nicht selten implizit einen pauschalen Vorwurf an ihre Generation, dass sie
damals Derartiges überhaupt zugelassen hätten.
Hinzu kommt eine Unsicherheit, die wohl aus den umfassenden Informatio-
nen über die NS-Verbrechen während der letzten Jahrzehnte entstanden ist. Doku-
mentationen in Form von Buch und Film widmeten sich diesem Thema ausführ-
lichst, und für die ZeitzeugInnen ergibt sich hier häufig die Problematik, dass sich
die eigenen Erinnerungen mit den Darstellungen der medialen Öffentlichkeit ver-
mischen. Diese Tatsache ist den ZeitzeugInnen allerdings vielfach nicht bewusst.
Schließlich ist es für manche ErzählerInnen heute schwierig damit umzugehen,
dass sie damals sehr wohl zumindest über die Existenz der Konzentrationslager
informiert waren und diese Tatsache als gegeben hinnahmen – während heutige
moralische Vorstellungen nachfolgender Generation diese Haltung des Akzeptie-
rens und Ausharrens nicht selten kritisieren.
All diese Faktoren bewirken in den Darstellungen der ZeitzeugInnen die Anwen-
dung unterschiedlicher Erzählstrategien und schließlich das Beziehen teilweise
entgegengesetzter Positionen. In Bezug auf keinen anderen Erzählstoff des 20.
Jahrhunderts sind die ZeitzeugInnen so uneins, ob man nun damals in Kenntnis
der NS-Verbrechen lebte oder nicht. Während ein Teil der ErzählerInnen feststellt,
„jeder“ habe davon gewusst, behaupten andere, „niemand“ hätte davon gehört
gehabt. Da die Ausschnitte in Bezug auf das (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen
sehr unterschiedlich, aber häufig sehr informativ sind, sollen sie nachfolgend
umfangreich wiedergeben werden. Es folgen zunächst jene Erzählungen, in denen
die ZeitzeugInnen vom allgemeinen Wissen um die verbrecherischen Pläne der
NationalsozialistInnen berichten:
QJ ♀, geboren 1920:
QJ: Aber der Hitler selber war ein Phänomen, ich habe ja selber Leute in der
Familie gehabt, die ihn bewundert haben. Wo wir alle gesagt haben, „ja, sind
die noch normal?“ Wissen denn die nicht, was vorgeht? Ich meine, das mit den
Juden, das hat man sehr wohl gewusst. Das hat er in den Reden gesagt sogar.
Hat er gesagt, die Juden gehören ausgerottet. Das haben sie laut gesagt.
304 Lehmann, Albrecht: Über tabuiertes Erinnern: Gruppenbild mit Hitler. In: Heidrich, Hermann
(Hg.): Biographieforschung. Gesammelte Aufsätze der Tagung des Fränkischen Freilandmuse-
ums am 12. und 13. Oktober 1990. Bad Wimsheim 1991. S. 61–76. Hier S. 65.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439