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gestorben. Später hat sich dann heraus gestellt, die sind im KZ gestorben oder
umgebracht worden. Ich kann da nicht urteilen. Ich bin ja nicht dabei gewe-
sen. Aber es sind schon überall in Vorarlberg … Wenn du jetzt so hörst, jetzt
schreibt man ja überall groß und breit, sind überall Leute verschwunden. Und
wie sie da mit dem Vallaster im Silbertal, der als Aufseher im KZ hunderttau-
sende scheinbar vergast oder dabei war bei der Vergasung. Ob das wahr ist,
das weiß ich nicht. Solche hat’s halt schon gegeben. Also ich weiß da bei uns, in
St. Gallenkirch kann ich mich nicht erinnern, dass einer außer den ein, zwei
Alten irgendwer einmal verurteilt oder eingesperrt worden ist. Kann ich mich
eigentlich nicht erinnern. Aber es ist natürlich in den ländlichen Gegenden,
wo jeder jeden gekannt hat, ist es schon ein bisschen besser gewesen.
Die Argumente dafür, warum schon während der nationalsozialistischen Herr-
schaft in Österreich auch den MontafonerInnen klar war, welche Verbrechen an
der Menschheit dieses Regime zu begehen im Begriff war, sind vielfältig. QJ führt
an, dass man bei den öffentlichen Auftritten und Reden der Nationalsozialis-
tInnen nur zuzuhören brauchte, um zu wissen, welche Methoden sie gegen wen
anwandten. KP weist darauf hin, dass viele über das Hören verbotener Radiosen-
der darüber informiert wurden, was im Deutschen Reich vor sich ging und von
der Nazi-Propaganda geheimgehalten, oder zumindest nicht ausposaunt wurde.
CC und OP erinnern sich konkret daran, dass man alte und vor allem behinderte
Menschen in einem Wagen (der mit „Vögilewaga“ sogar eine eigene Bezeichnung
hatte) abtransportierte und diese nicht mehr zurückkehrten.310 Ebenso wurde mit
Menschen verfahren, die ihr Andersdenken laut kundtaten, als Beispiel wird hier
ein Pfarrer genannt. NN schließlich beobachtete in Wien, wie die Nationalsozi-
alistInnen JüdInnen in aller Öffentlichkeit malträtierten.311 Was Kriegsgefangene
oder ZwangsarbeiterInnen anging, wurde nicht davor zurückgeschreckt, im Falle
ihres „Fehlverhaltens“ ein Exempel zu statuieren und sie als Warnung öffentlich
hinzurichten. All diese Begebenheiten wurden, sofern sie nicht von den Erzäh-
lerInnen selbst beobachtet wurden, hinter vorgehaltener Hand weitererzählt und
waren daher auch großen Teilen der Bevölkerung bekannt. Dass die in den obigen
Ausschnitten dargestellten Begebenheiten und Maßnahmen natürlich auch das
310 Vgl. Hinterhuber, Hartmann: Die „Ausmerze Erbkranker“, eine „bevölkerungspolitische Maß-
nahme“. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten aus Nord-
und Südtirol. In: Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der
NS-Zeit. (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19) Innsbruck 2002. S. 217–230.
311 Vgl. Albrich, Thomas: „Die Juden hinaus“ aus Tirol und Vorarlberg: Entrechtung und Vertrei-
bung 1938 bis 1940. In: Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der
NS-Zeit. (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19) Innsbruck 2002. S. 299–318.
Albrich, Thomas: Die „Endlösung der Judenfrage“ im Gau Tirol-Vorarlberg: Verfolgung und
Vernichtung 1941 bis 1945. In: Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vor-
arlberg in der NS-Zeit. (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19) Innsbruck 2002.
S. 341–360.
Meixner, Wolfgang: „Arisierung“ – die „Entjudung“ der Wirtschaft im Gau Tirol-Vorarlberg. In:
Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit. (= Innsbru-
cker Forschungen zur Zeitgeschichte 19) Innsbruck 2002. S. 319–340.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439