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226 Ziel der nationalsozialistischen Politik und den Weg dorthin (mindestens) erah-
nen ließen, war jedenfalls jenen klar, die sich dafür interessierten.
KPs Erzählung zeigt auf, wie manche ZeitzeugInnen in ihren Darstellungen der
NS-Verbrechen, und darüber hinaus in ihren Stellungnahmen dazu, vorsich-
tig bleiben. Mit dem Hinweis „Ich weiß das nicht. Ich hab das nie gesehen, ich
hab das nur gehört“ stellt er, obwohl er selbst angibt, mit einer KZ-Überlebenden
gesprochen zu haben, den Holocaust in Frage. Es kann angenommen werden, dass
vorgeblich wissenschaftliche Publikationen von Holocaustleugnern312 – oder die
mediale Berichterstattung über diese Publikationen – bei manchen ZeitzeugInnen
gerade aufgrund der eigenen Unsicherheit in Bezug auf die NS-Verbrechen (und
die eigene Rolle diesbezüglich) auf fruchtbaren Boden fallen und gewissermaßen
gerne gehört werden. KPs Feststellung „Es gibt ja heute noch Leute, die sagen,
das ist nicht so gewesen“ unterstützt diese Interpretation. KP spricht im obigen
Ausschnitt die Aufarbeitung der Verbrechen des Silbertalers Josef Vallaster in
Sobibor an, mit der 2007 begonnen wurde und die das Tal zunächst in große Auf-
regung versetzte. Josef Vallaster flüchtete 1933 als illegaler Nationalsozialist nach
Deutschland und wurde später als „Brenner“ in der Tötungsanstalt Hartheim und
als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt.313 Anfangs wurde seitens
der Bevölkerung massive Kritik an den wissenschaftlichen Bemühungen um die
Klärung der historischen Sachverhalte geübt,314 diese Kritik deutet auch KP mit
seiner Aussage „jetzt schreibt man ja überall groß und breit. […] Ob das
wahr ist, das weiß ich nicht“ an.
Die Darstellung jener Erzählungen, in denen die ZeitzeugInnen von ihrer Unwis-
senheit um die Verbrechen in den KZs und an anderen Orten berichten, sind
naturgemäß kürzer, da es sich häufig nur um eine kurze Stellungnahme wie „Von
der Judenverfolgung haben wir nichts gewusst“ handelt. Nicht selten werden dieser
und ähnliche Sätze entschieden oder sogar entrüstet vorgebracht. Sie dienen häu-
fig dazu, den in einer Frage nach der damaligen Kenntnis mitschwingenden oder
auch nur vermuteten Vorwurf der Mitwisserschaft oder gar Mitschuld zurückzu-
weisen. Meist ist das Subjekt des Satzes ein kollektives „wir“ oder ein „man“, eher
selten wird „ich“ gebraucht, was darauf hindeutet, dass hier eine kollektive, im Lauf
der Zeit zur Abwehr verfestigte Haltung vorliegt. Was genau „man“ nicht wusste,
wird meist nicht erläutert – werden hier das Grauen der Vernichtungslager, das
Massensterben in Arbeitslagern, die Deportationen oder das Gesamtausmaß der
Verfolgung angesprochen? Bezeichnend ist weiters, dass – analog zu KPs Hinweis
„Ich hab das nie gesehen, ich hab das nur gehört“ kaum je geleugnet wird, dass
man etwas nicht gehört oder geahnt hätte, sondern vor allem vom Nicht-Wissen
312 Einer der in Österreich bekanntesten unter ihnen ist der Brite David Irving.
313 Vgl. Weber, Wolfgang: Von Silbertal nach Sobibor. Über Josef Vallaster und den Nationalsozialis-
mus im Montafon. (= Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 48) Feldkirch 2008. S. 50–62.
314 http://www.erinnern.at/bundeslaender/vorarlberg/bibliothek/dokumente/josef-vallaster-
aus-dem-silbertal-massenmorder-in-hartheim-und-sobibor am 14.5.2011.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439