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SZ: Ja, aber wie gesagt, ich hab mich da nicht irgendwie an die Öffentlich-
keit gewandt oder irgendwie Propaganda gemacht und so weiter. Man hat
mittun müssen, weil man sonst einfach diffamiert worden wäre. Beruflich,
auch sonst als Mensch. Wenn sonst überall „Heil Hitler“ und so weiter, dann
kannst du nicht nicht „Heil Hitler sagen“. Die Leute können das dann gar
nicht verstehen, was damals für eine Stimmung war, 1938, 39. Ich war da ein
Idiot, dass ich da mitgemacht hab, aber das war nicht so, dass man halt sagen
hat können, die können mir alle dreimal den Buckel runter rutschen. Man
hat gesehen, dass es Folgen gehabt hätte, wenn man sich zu sehr von ihnen
absetzt. Man hat so tun müssen, wie wenn man „Jaja, machen wir halt auch
mit, es hilft alles nichts“. Man hat halt den Schein waren müssen, aber sonst
direkt dagegen war nicht günstig. Weder beruflich, noch gesellschaftlich. Hat
man nichts gewonnen, wenn man sich zu sehr abgesetzt hätte. Gut, es hat
geheißen, ihr seid Feiglinge, aber es ist halt jeder seinem Hemd näher als dem
des anderen.
In diesem Ausschnitt nimmt SZ klar Stellung zu seiner Haltung während der
NS-Zeit, in der er fühlte, keine andere Alternative als Kooperation zu haben. Der
Erzähler bezeichnet sich selbst deshalb als „Idiot“, räumt also einen Irrtum ein und
rechtfertigt diesen schließlich mit einer Redewendung, die den eigenen Nutzen als
oberstes Ziel umschreibt. Während SZ klar zu seiner wenig couragierten, ängst-
lichen Haltung steht und diese als notwendig darstellt, verzeichnen sich einige
andere ZeitzeugInnen in Bezug auf das repressive NS-System auf der politisch und
menschlich entgegengesetzten Seite. Nachfolgend kommen JJ und DD mit Erzäh-
lungen von ihren mutigen, beinah heldenhaften Müttern zu Wort:
JJ ♂, geboren 1927:
JJ: Also irgendwie furchtbar dieser Hass, der da gewesen ist. Und alles ist
so total organisiert gewesen, total organisiert. Man hat auch immer Angst
gehabt. Man hat Angst gehabt, wenn man irgendetwas sagt. Und meine
Mama, die hat sich halt immer getraut, irgendetwas zu sagen oder vielleicht
ist sie so zu naiv gewesen. Hat auch, wo der Krieg angefangen hat, hat sie
gesagt zur Nachbarin, zu der wo da gespuckt hat: „Ja, es wird halt gehen wie
im Ersten Krieg, da haben wir halt auch zu wenig zu essen gehabt“ und so
weiter. Jetzt hat man sie gleich angezeigt. Der Papa ist gerade beim Grenz-
schutz gewesen. Hat sie vor ein Parteigericht müssen. Da hat man ihr gesagt,
wenn sie noch einmal so etwas Schädigendes sagt für die Bewegung und für
Deutschland, dann kommt sie weg, dann kommt sie nach Dachau. Dann hat
sie noch einmal so einen Blödsinn gesagt. Wir haben immer gesagt: „Mama
sei einmal still.“ Dann sind diese Hitler-Reden übertragen worden und dann
hinterher hat man immer so geklatscht. Und meine Mama hat gesagt: „Die
werden schon eine Klatschmaschine gehabt haben, dass es so getan hat.“ Ja,
dann haben wir auch immer Angst gehabt, jetzt nimmt man sie dann nach
Dachau.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439