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232 DD ♂, geboren 1945:
DD: Ich bin 1945 geboren. Hier war noch alles wegen der Nazizeit in wahn-
sinnigem Aufruhr drinnen. Weil natürlich diese Nazis langsam die Hosen
voll hatten und doch Angst hatten. Da wollten sie noch alles wieder nochmal
gerade rücken und haben nochmal viel Macht ausgeübt, dass sie diese Lage
halten hätten können. Was ja sowieso sinnlos war. Und hier ist dann natür-
lich auch vieles passiert. Das heißt auch, das möcht ich grad noch dazusagen,
als meine Mama mit mir schwanger war, da hat sie – sie war halt ein „gra-
der Michl“321 – halt einmal den Mund zu weit aufgemacht, das ist dann zu
den Nazis gedrungen und nachher haben sie sie mitgenommen, verhört und
natürlich mit ihren Methoden, als eine Hochschwangere. Weißt du, wenn du
nicht das gesagt hast, was sie hören wollten, haben sie die Finger eingeklemmt.
Ihre Finger waren dann das ganze Leben lang steif. Einfach Türe auf und
hinten auf die Türe rauf.
Auch JJ und DD thematisieren hier, wie zuvor SZ, die Repression und die Gewalt
durch die NationalsozialistInnen auf die Bevölkerung. Anders als SZ lassen sie an
der Beschreibung dieser Repression die Heldinnen ihrer Geschichte – in beiden
Fällen die Mütter – wachsen und verleihen ihnen durch ihren Mut und ihre unbe-
irrbare Standhaftigkeit in der freien Meinungsäußerung eine heldinnenhafte Rolle.
Nicht zuletzt fällt ein gewisses Prestige der beherzten Frauen auf die Erzähler als
Nachkommen ab, was sicherlich auch einen Antrieb zu diesen Erzählungen dar-
stellt.
In ihrer Aussage sind sich somit die Erzählungen sowohl von SZ als auch von JJ
und DD sehr ähnlich: Die Nazis bemühten sich mit allen Mitteln, Anders-Denken
und freie Meinungsäußerung zu unterbinden, und sie zwangen die Menschen nach
Möglichkeit zur Gleichschaltung und Teilnahme. In ihrer Ausgestaltung folgen die
Erzählungen der drei Männer allerdings zwei verschiedenen Mustern, die sich in
Bezug auf die Geschichten von Repression im Montafon durch die Nationalsozi-
alistInnen immer wieder feststellen lassen. Die eine Form der Mustererzählung
nutzt das Thema der Repression als Rechtfertigung für das eigene angepasste Ver-
halten, während in der anderen Form der Mustererzählungen die Hauptdarsteller-
Innen durch ihren Widerstand gegen diese Repression zu HeldInnen avancieren.
Als Sanktionen, die widerständige MontafonerInnen zu spüren bekommen hätten
können, wurden bereits Diffamierung im Dorf, Gewalttätigkeit und die Drohung
mit Deportation in ein Konzentrationslager angesprochen. Besonders letztere
Sanktion wird von den ZeitzeugInnen häufig erwähnt. In Bezug auf den Hinweis
„man wäre sofort nach Dachau gekommen“, wenn man sich hier oder dort von den
Nazis distanziert hätte, kann durchaus von einem Topos gesprochen werden. Dass
einfache LandwirtInnen oder ArbeiterInnen aufgrund einer kritischen Äußerung
in ein Konzentrationslager gekommen wären, stellt historisch betrachtet eine
321 ehrlicher, aufrechter Mensch.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439