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234 hat halt da über den Hitler „ahag’haut“324. Und das Maiggile hat das gehört,
und geht her und zeigt den an bei der Gendarmerie. Und dann sind die Gen-
darmen gekommen und haben das Männli wieder – „frisch g’set“325 – einge-
sperrt. Wir sind dann noch, der Vater und der Gendarm, den wo er kennt,
sind dann noch zu reden gekommen, dass man dem Männli nichts antut.
Aber so ist das dann in den Kindern auch schon drinnen gewesen, oder.
OP ♂, geboren 1930:
OP: Also wir haben damals noch keinen [Radio, Anm.] gehabt. Aber in
Innerberg ist jetzt einer gewesen, unter der Kirche hat er gewohnt. Und er hat
Schwarzsender gehört. Und so ein Nazibonze hat vor dem Fenster draußen
gehorcht, und hat das gemeldet. Am anderen Tag ist er schon fort gewesen,
ist er schon ins KZ. Aber er ist dann wieder … sie haben ihn dann wieder
entlassen, weil vier Buben im Krieg gewesen sind. Das ist ein Milderungs-
grund gewesen. Im Silbertal unten ist einer gewesen, der hat eine Kuh schwarz
geschlachtet. Und da sind sie ihm drauf gekommen. Und den haben sie auch
geholt. Haben sie auch eingesperrt. Und dort sind sechs Buben im Krieg gewe-
sen. Bei dem sind ja zwölf Kinder gewesen. Sechs sind im Krieg gewesen und
zwei sind gefallen. Und den haben sie dann auch begnadigt. Den haben sie
auch heim gelassen. Ja, da hat man schon … hast du dich schon fast nicht
mehr getraut, zu reden, weißt du. Nicht gewusst, wenn irgendwo ein Spion
um ist, wo dich hinhängt.
I: Aber hat man schon gewusst, wer eher dafür ist …? […]
OP: Das hat man schon gewusst, ja. Ja. Aber es hat halt auch solche gege-
ben, wo dir ins Gesicht hinein schön getan haben, und hätten dich hinter dem
Rücken auch hingehängt. Hat es auch gegeben. Solche falschen Leute hat es
auch gegeben. Ja, man hat halt einfach niemandem trauen können.
In allen Erzählungen kommt es zur Anzeige oder Denunziation eines Unschuldi-
gen oder zumindest einer Person, deren Vergehen (Hören eines verbotenen Radio-
senders, Schimpfen über Hitler, Schwarzschlachten etc.) aus heutiger Perspektive
nicht mehr verwerflich ist und in Bezug auf die damalige Situation im Gegenteil
respektiert wird. Ihr Gegenpart in der Mustererzählung ist einE DenunziantIn,
einerseits als „Kristallisationsgestalt des Bösen“326 und überzeugter, berechnender
Nazi dargestellt, andererseits verkörpert durch ein naives Mädchen, das selbst als
Opfer des Regimes und seiner Propaganda vorgestellt wird. In allen Fällen können
die schlimmsten Folgen der Anzeigen abgewendet werden, der werthaltige End-
punkt der Denunziationsgeschichten ist die Darstellung des moralischen Verfalls,
des Misstrauens sowie auch des teils fanatischen Extremismus, der in Zeiten der
Macht der NationalsozialistInnen die Gesellschaft prägte.
324 geschimpft; über ihn hergezogen.
325 etwa: offen gesagt.
326 Lehmann: Reden über Erfahrung. S. 129.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439