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244 den. Wie dies schon beim „Anschluss“ der Fall war, wird auch der 1. September
1939 mit dem Angriff auf Polen als Beginn des Zweiten Weltkriegs zumeist genau
erinnert. Die ZeitzeugInnen betten ihre Erinnerungen an diesen historischen Tag
in den Alltag ein, in dem sie sich befanden, als sie die Nachricht über den „Aus-
bruch des Krieges“ erreichte. Als Beispiele seien die Erzählungen von UV und UF
angeführt:
UV ♀, geboren 1926:
UV: Mit 13 Jahren ist dann der Krieg ausgebrochen. Da ist die Mama von
Schruns vom Einkaufen mit dem Fahrrad, und als sie heim gekommen ist,
hat sie gesagt: „Meine lieben Kinder, es ist der Krieg ausgebrochen. Jetzt muss
wahrscheinlich unser Papa auch in den Krieg gehen.“ Und er hat dann auch
gehen müssen. Vorher hat aber noch der Bruder gehen müssen, er ist dann, 18
war er, in den Krieg gegangen, und der Reihe nach sind sie dann eingerückt.
Und dann waren sie natürlich nicht da, und dann sind sie gefallen und man
hat gejammert und geweint, das ganze Jahr das wir gehabt haben, ist nur
gejammert und geweint worden.
UF ♀, geboren 1916:
UF: Und der Krieg hat am 1. September 39 war Kriegsbeginn. Das war auch
… Wir saßen im Büro, und da war eine wichtige Durchsage: Ab heute Früh,
um so und so viel, marschieren unsere Truppen nach Polen ein. Was wollen
denn die da? Wir waren alle wie vor den Kopf geschlagen. Keine von uns, wir
waren vier in dem Raum, hat je eine Ahnung gehabt, was da kommen könnte.
Und wie das so ist, wenn etwas kommt, dann nimmt man es halt, weil es nicht
anders geht, muss man damit fertig werden.
Die Darstellungen der beiden Frauen ähneln sich insbesondere dahingehend, dass
sie aus einer ohnmächtigen, passiven Perspektive erfolgen. UVs Familie „jammerte
und weinte das ganze Jahr lang“, UF stellt fest, dass man Gegebenheiten nehmen
muss und „mit ihnen fertig werden“. Der Krieg wird als unabwendbares Schick-
sal beschrieben, das es zu ertragen galt. Kriegsbeginn und die weiteren Ereignisse
wie das Einrücken der männlichen Familienmitglieder oder die Gefallenennach-
richten vermischen sich im Rückblick und verschmelzen zum Erzählstoff „Krieg“.
Auch in der Darstellung des 1924 geborenen IJ wird deutlich, wie sich die Ereig-
nisse und Erinnerungen retrospektiv überschlagen. In seiner Erzählung über den
Kriegsbeginn fließen Propaganda und die nationalsozialistischen Medien, Lebens-
mittelkarten und Warenknappheit ein:
IJ: Ja, der [Krieg, Anm.] hat begonnen da, 39. Da gab’s den Polenfeldzug, der
verhältnismäßig ruckzuck fertig war. Dann gab’s wieder diese Pausen, dann
gab’s Frankreich und alles. Die Besatzung da. Norwegen auch alles. Das ist ja,
da hat man eigentlich gedacht: Ja. Erst nachdem 42 in Russland Stalingrad
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439